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Spielzeit 2013/­14

MUSIKTHEATER

MUSIKTHEATER: »Anatevka« - Jost Schmidtchen - Sächsische Zeitung

„Anatevka“ ohne Happyend
Mit dem Musical gastierte das Theater Görlitz in der Lausitzhalle. Die Inszenierung hinterließ Nachdenklichkeit.

Mit dem Musical „Anatevka“ tritt der Besucher in eine Welt ein, die die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigt, leider nicht von der gerade freundlichen Seite. Basierend auf den Geschichten von Scholem Alejchem, der 1905 Russland nach Pogromen verließ, verdanken wir neben anderen literarischen Werken auch die Geschichte um den Milchmann Tevje.

Das Musical, das ursprünglich unter dem Titel „Der Fiedler auf dem Dach“ am Broadway inszeniert wurde, erlebte dort im Zeitraum 1964 bis 1972 insgesamt 3 242 Aufführungen. Dem Programmheft ist zu entnehmen, dass inzwischen über 25 Millionen Besucher in mehr als 56 Ländern der Erde das „Wunder von >Anatevka<“ erlebten. Nun war am Mittwoch dazu auch in der Lausitzhalle Gelegenheit, und rund 450 Besucher waren nicht nur emotional tief beeindruckt, sondern von der hervorragenden Inszenierung so begeistert, dass der Applaus am Ende gar kein Ende nehmen wollte.

Dem Gerhart Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau ist mit „Anatevka“ ein großer theatralischer Wurf gelungen. Der Hintergrund des Musicals ist alles andere als fröhlich. Seit Jahrhunderten wurden die Juden in Russland verfolgt, was später folgte, wissen wir alle.
Darauf basiert das Stück in Görlitz, und es führt uns in erschreckender Weise bis in die Gegenwart. Wobei die Handlung des Musicals die Besucher auf sehr angenehme Weise in die jüdische Lebenswelt entführt, in eine Welt, in der niemand reich ist, aber alle irgendwie glücklich miteinander leben im Dorf Anatevka. Doch auch dort verändert sich die Welt, was der Milchmann Tevje (Stefan Bley) und seine Ehefrau Golde (Yvonne Reich) erfahren müssen. Vorbei ist nämlich die Zeit, dass sich ihre erwachsenen Töchter Zeitel (Patricia Bänsch), Hodel (Laura Scherwitzl) und Chava (Audrey Larose Zicat) von den Eltern vorschreiben lassen, wen sie zu heiraten haben. Zeitel heiratet den armen Dorfschneider Mottel (Michael Berner), Hodel folgt dem Revolutionär Perchik (Torsten Ankert) nach Sibirien und Chava dem russischen Sänger Fedja (Jan Novotny).

Tevje muss erkennen, dass er nicht alle alten Traditionen erhalten kann. Die Musik von Jerry Bock ist sehr einfühlsam. Der 1968 durch Shmuel Rodensky in Deutschland zum Hit gewordene Song „Wenn ich einmal reich wär“ durchzieht als musikalisches Hintergrundmotiv die gesamte Aufführung. Hinzu kommen Melodien wie das Lied der Kinder von Tevje und Golde „Jente, oh Jente“, die Duette Tevje/­Golde „Heimlich verlobt“ und „Ist es Liebe?“ sowie Chavas flehendes Lied „Papa, versuch zu versteh’n“. Doch Tevje wollte nicht verstehen, nicht das Auseinanderbrechen der Familie, auch nicht das Ende seines Heimatdorfes Anatevka. Zu spät muss er erkennen, dass seine Liaison mit der Staatsmacht falsch war. Das Schlussbild führte in bedrückender Weise in eine noch gar nicht lo lange zurückliegende Zeit. Niemand weiß, wohin es gehen wird und ob es eine Zukunft gibt.

Jost Schmidtchen
Sächsische Zeitung
19.06.2014

MUSIKTHEATER: »Sweeney Todd« - Jens Daniel Schubert - Sächsische Zeitung

Wohl bekomm’s!

Fleischpasteten und ein Geheimnis: Sweeney Todd, der teuflische Barbier, eröffnete seinen Laden im Görlitzer Theater.


Sweeney Todd war ein Massenmörder Ende des 18. Jahrhunderts in London. Sein Fall wurde zum Schauspiel, Stephen Sondheim formte es 1979 zum Musical, er selbst nannte es eine „schwarze Operette“. Hier bekommt der Serienkiller ein nachvollziehbares Motiv und eine gesellschaftliche Dimension. Sweeneys Antrieb ist Rache für 15 Jahre unschuldige Verbannung, für sein zerstörtes Leben und das Zerstörerische des Lebens. Sein mechanisiertes Töten wie am Fließband und seine pragmatische Ressourcenausnutzung – Nachbarin Lovett verarbeitet die Leichen zu schmackhaften wie preisgünstigen Pasteten – hält dem neoliberalen Kapitalismus den Spiegel vor. Im Jahre 2007 schließlich verkörpert Jonny Depp den mörderischen Barbier und steigert dessen Popularität. Von der profitiert das Theater in Görlitz, das am Sonnabend eine umjubelte Premiere des Musicals erlebte.

Sebastian Ritschel erzählt die Geschichte konsequent und klar und, sowohl das Verbrecherische von Todds wahnwitzigem Racheplan und das Bestialische seiner kannibalischen Partnerin offen vorgeführt werden, ist deren Handeln faszinierend abseits jeglicher moralischen Verurteilung.
Ausstatter Markus Meyer, baute eine verschachtelte Bühne, die anschaulich die vielen verschiedenen Ebenen des Stückes und ihre Bedeutung vor Augen führt. Die Gitterkonstruktion des Gefängnisses, das Verbrecherfoto des Mörders bilden den ständig präsenten Rahmen. Darin sind die Figuren lebendig. Todd, der Mann mit dem Rasiermesser und Lovett, die Pastetenbäckerin, sind ganz menschlich , irgendwie nachvollziehbar. Die hölzern gereimten deutschen Texte unterstreichen die Absurdität des Ganzen. Das sind keine Scherze, bei denen einem ob ihrer makabren Dimension das Lachen im Halse stecken bleibt. Das ist Horror pur, der in seiner absurden Konsequenz befreiendes Lachen provoziert.
Die Inszenierung in Görlitz erzählt das klar und konsequent, stilistisch sicher und mit großen, nachwirkenden Bildern. Sie lebt aber vor allem durch die großartigen Sängerdarsteller, die ihre Figuren überzeugend gestalten. Da ist Gary Martin in der Titelpartie. Kein abgedrehter Verrückter, kein geheimnisvoller Psychopath, sondern eine sympathische Vaterfigur, einer der tut, was zu tun ist. Ähnlich Yvonne Reich als Mrs. Lovett. Eine zupackende, pragmatische Frau mit Träumen vom kleinen Glück an der Seite des starken Sweeney. Und glücklichen Stunden als mütterliche Lehrmeisterin für Leibesneulinge wie den naiven, fast einfältigen Tobias Ragg, geradezu und überschäumend begeisterungsfähig von Michael Ernst gegeben.

Fast statisch, unnahbar schön, unerreichbar ideal spielen Kora Lang und Sven Prüwer das junge Paar Johanna und Anthony. Ihre dramatische Bedeutung im Stück als Motor, Katalysator und retardierendes Moment der mörderischen Geschichte bleibt in der Inszenierung bewusst unterbelichtet. Großartig dagegen die immer wieder aufblitzenden Auftritte der verrückten Bettlerin, deren dramatische Funktion sich erst zum Schluss erschließt und die gegen alle Hindernisse überzeugend von Audrey Larose Zicat gespielt und gesungen wird.
Musikalisch ist Sondheim, der als Songtexter der „West Side Story“ berühmt ist und dessen Musical „Passion“ vor einigen Jahren an der Staatsoperette in Dresden zu erleben war, ein in Musical und Filmmusik bewährter Profi. Seine „Sweeney“-Musik ist dabei keineswegs geradlinig und eingängig. Zwar gibt es auch hier charmante Melodien, insbesondere beim jungen Liebespaar, aber ebenso viele kantige und sperrige, von eindringlichen Rhythmen und schrillen Dissonanzen geprägte vielschichte Sequenzen.
Diese dramatische und hintergründige Musik war bei der Neuen Lausitzer Philharmonie unter Ulrich Kern in den besten Händen. Er setzte musikalisch Impulse, trug Bühnengeschehen und Sänger, vom Chor über die kleinen Solopartien bis zu den Protagonisten, sicher durch den Abend, der die vielen auch jungen Premierenbesucher begeisterte. Mögen sie es weitersagen. „Sweeney Todd“ wartet auf neuen Kundschaft.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
10. Juni 2014

MUSIKTHEATER: »Jenůfa« - Sven Köhler - Facebook

JANÁČEK: "JENŮFA"

Leoš Janáčeks geniale "Jenůfa" findet immer wieder den Weg an die großen Bühnen dieser Welt, einerseits wegen der faszinierenden ausdrucksstarken Musik, andererseits bietet sie einige schwere, aber dankbare Rollen. An kleineren Häusern gehört etwas Mut dazu, dieses Werk auf den Spielplan zu setzen. In Görlitz gibt es mit einer gewissen Regelmäßigkeit slawisches Repertoire, und die "Jenůfa" kommt, was die Möglichkeiten des Ensembles betrifft, zum richtigen Zeitpunkt.

GMD Andrea Sanguineti leitet sicher, konzentriert und mit Sinn für die Dramaturgie der Komposition. Die Gegensätze zwischen den zahlreichen hochexpressiven Steigerungen und den lyrischeren Momenten werden mit großer Plastizität dargestellt. Die Neue Lausitzer Philharmonie präsentiert sich vom ersten Xylophoneinsatz an bis zu den abschließenden Posaunenstößen in Bestform.

Die vier Hauptrollen muss man erstmal besetzen. Eine der schwersten Rollen der gesamten Operngeschichte ist die der Küsterin. Viele Sängerinnen wagen sich erst ganz am Ende ihrer Karriere daran, und manche berühmte Hochdramatische hat man da schon scheitern sehen (Jones, Polaski). Vor diesem Hintergrund muss man größten Respekt vor der Leistung Yvonne Reichs haben. Die dramatischen Höhen geht sie furchtlos und mit Bereitschaft zur Selbstaufopferung an. Mit wachsender Routine und jenseits der Premierennervosität wird sie noch Stellen entdecken, wo man die Stimme etwas "ausruhen" lassen kann. Nicht entscheiden kann ich, ob der häufige Wechsel ins Sprechen bei tief liegenden Passagen aus der Not geboren oder gestalterische Absicht (der Sängerin? des Regisseurs? des Dirigenten?) ist. Wenn es bewusst als dramatisches Mittel eingesetzt wird, dann für meinen Geschmack etwas zu häufig. Aber ich wiederhole: Respekt!

Patrizia Bänsch wagte mit der Titelrolle einen beherzten Sprung ins Sopranfach. Das hörte sich nur in des ersten Passagen etwas herb an, steigerte sich dann sehr schnell zu einer schönen runden Leistung. Und ein etwas dunkleres Timbre steht den meisten Sopranrollen recht gut an. Wenn es sich für sie selbst gut anfühlt, tut sich ein weites Feld vor ihr auf.
Man braucht zwei Tenöre, beide durchaus heldisch, aber auch zu schönen legato-Passagen fähig. Görlitz hat einen mit diesen Qualitäten im Ensemble (Jan Novotny, der als Štewa zudem durch erstkassige Mimik und Körpersprache auffiel), und fand dazu einen vorzüglichen Gast in Keith Boldt, der der Partie des Laca in jeder Hinsicht gerecht wurde.

Von den weiteren Rollen gefielen vor allem die den ersten Akt mit prägenden Helena Köhne als Großmutter Buryja (satte Altstimme mit vorbildlicher Phrasierung) und Ji-Su Park als Altgesell mit raumgreifendem Bariton. Kein Ausfall in den kleinen Partien, auch das ist ein Beleg für die Leistungsfähigkeit des Görlitzer Ensembles.

Klaus Arauner findet in seiner Inszenierung Bilder von starker Symbolkraft (Ausstattung: Britta Bremer) und hält das Geschehen durch seine ausgezeichnete Personenführung am Laufen.

Sehr langer und begeisterter Premierenapplaus!

Sven Köhler
Erschienen auf Facebook
26. April 2014

MUSIKTHEATER: »Jenůfa« - Jens Daniel Schubert - Sächsische Zeitung

Kindermord zur Ehrenrettung

Große Bilder, aufgewühlte Musik, beeindruckende Darsteller: In Görlitz ist die Geschichte von Jenufa zu erleben.


Ihre Jenufa soll’s mal besser haben, davon ist die alte Küsterin besessen. Sie ist klug und schön und beliebt. Doch ausgerechnet in Stewa verliebt sich das Mädel. Der ist hübsch und reich und ein Glückskind. Doch auch leichtlebig und schon als junger Mann dem Alkohol zugetan. Damit hat die Küsterin aus eigener Ehe böse Erfahrung. Das will sie nicht für ihre Tochter.

Leoš Janáček hat diese Ausgangslage zu einer hoch dramatischen und emotional bewegenden Oper verabschiedet. „Jenufa“, ein überaus anspruchsvolles Werk, steht seit dem Wochenende auf dem Spielplan des Gerhart Hauptmann-Theaters in Görlitz, die Premiere wurde mit langem Applaus gefeiert.

Herbstblätter fallen auf eine fast leere schwarze Bühne. Lediglich ein überdimensionaler weiß gedeckter Tisch in Kreuzform unterteilt die Fläche. Hier wartet Jenufa auf ihren Verlobten, der zur Musterung musste. Hier hofft dessen Stiefbruder Laca, dass Stewa fort muss und er eine Chance hätte mit seiner Liebe zu Jenufa. Hier entlädt sich das ganze Missfallen der Küsterin auf den fröhlich bezechten Stewa.
Was wie ein Damokleschwert unausgesprochen über dem Ganzen schwebte, ist im zweiten Bild Realität. Weißer Schnee fällt, das Kreuz ragt wie ein Fels schräg in die Bühne, darunter, halb Höhle, halb Gruft, hat Jenufa, behütet und abgeschottet durch die Küsterin, Stewas Kind zur Welt gebracht. Doch Stewa will nichts wissen von Jenufa und ihrem Kind. Laca würde sie nehmen, doch ihn schreckt das Kind.
Die Küsterin wird es aus dem Weg schaffen, um der Tochter ein ehrbares Leben zu retten. Im dritten Bild heiraten Jenufa und Laca. Ihr Kind, meint sie, sei gestorben, als sie im Fieber lag. Auch Stewa kommt mit seiner neuen Braut. Schmelzwasser fließt über die Bühne. Das Kreuz ist aufgerichtet wie auf einem Grab. In seinem Schatten vegetiert die Küsterin, die fast den Verstand verloren hat an dem düsteren Geheimnis, die Mörderin ihres Enkels zu sein. Auch die Dorfleute kommen, doch nicht zum Feiern, sondern weil der aufgetaute Bach die Kinderleiche freigegeben hat. Jenufa erkennt ihr Kind und der Mob will sie als Kindsmörderin töten. Laca versucht sie zu verteidigen und die Küsterin gesteht ihre Tat. Bevor der Richter kommt, vergibt Jenufa ihrer Mutter. Das Kreuz senkt sich und begräbt die Küsterin unter sich. Dann, mit Laca allein, kann Jenufa endlich seine alles übersteigende Liebe erwidern. Es ist in Görlitz kein rückhaltloses Aufeinanderzustürzen, wie es die Musik nahe legt, sondern eher ein zögerndes Zusammenfinden, der Anfang eines Weges.

Britta Bremer hat das karge, aber unglaublich wirkungsvolle Bühnenbild erfunden. Mit den stilisierten, sauber-neuen Kostümen siedelt sie die Handlung an einen konkreten, aber nicht näher bestimmten Handlungsort, irgendwo Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Fantasie und Assoziationskraft des Zuschauers sind angeregt. Intendant Klaus Arauner spielt in diesem optischen Rahmen die Geschichte genau, führt die Protagonisten zu durchweg überzeugenden Leistungen. Mit den Choreografen Dan Pelleg und Marko E. Weigert an der Seite inszeniert er den Chor und die kleineren Solorollen in einer dem Bild angemessenen, nicht naturalistischen Spielweise, die die Konzentration auf die Kerngeschichte verstärkt.

Die Neue Lausitzer Philharmonie, der Chor und alle Solisten wachsen unter der Leitung von Andrea Sanguineti zu einem beeindruckenden Ensemble musikalisch höchster Ausstrahlung zusammen. Überragend dabei die Gestaltungskraft der Solisten, als alte Buryja Helena Köhne, als Stewa Jan Novotny und als Laca Keith Boldt. Fesselnd in der Spannweite ihrer spielerischen wie stimmlichen Gestaltungskraft ist Yvonne Reich als Küsterin. In einem ganz neuen Fach und rundum überzeugend präsentiert sich Patricia Bänsch als Jenufa, die ihre Figur in den unterschiedlichsten Facetten auslotet. Diese „Jenufa“ ist tragisch und gleichzeitig mitreißend.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
28. April 2014
Foto: Marlies Kross

MUSIKTHEATER: »Salon Pitzelberger« - Jens Daniel Schubert - Sächsische Zeitung

Herr von Pitzelberger hat geladen

Das Görlitzer Theater bietet kurzweiligen Spaß mit Schwung aus Offenbachs Musik und ungetrübter Spielfreude.
Er ist der Meister der kleinen Form: Jacques Offenbach. Seine pointierten Einakter sind bitterböse, witzig und frisch unterhaltend. Um einen ganzen Abend mit diesen kurzweiligen Stücken zu füllen, muss man mehrere nacheinander spielen, was häufig den Spaß und die Hintergründigkeit des Einzelnen relativiert. Görlitz lädt in den "Salon Pitzelberger", spielt diese Geschichte hautnah, direkt, macht dem Publikum Lust auf mehr - und doch ist nach einer knappen Stunde Schluss. Das Publikum zur Premiere am Mittwochabend wusste erst nicht so recht, obʻs noch einen Nachschlag gibt, applaudierte dann aber lang und herzlich.

Die Zuschauer werden vom sächselnden Dienerpaar (Felicitas Ziegler und Michael Berner) im Foyer abgeholt und so in die Geschichte hineingezogen. Das Foyer-Café hat sich nach den Plänen des Ausstatters Werner Pick in den Salon von Monsieur Pitzelberger verwandelt, neben den praktikabel-vielseitigen Spielpodesten gibt es zahlreiche Objekte der Kategorie: Ist das Kunst, oder kann das weg? Rundum sitzt das Publikum, den Sängern ganz nah, die ebenfalls auf engstem Raum agieren.

Pitzelberger, gewohnt unterhaltsam gegeben von Hans-Peter Struppe, ist neureich und will mit einer künstlerisch umrahmten Soiree in der guten Gesellschaft ankommen. Die allerdings schickt die zweite Garnitur, charakterisierend dargestellt durch zwei Paare aus dem Opernchor. Die avisierten Künstler, italienische Starsänger, sagen ganz ab.

Ernestine, Pitzelbergers kokettes Töchterlein, süße 17, frisch aus dem Internat nach Paris gekommen und sogleich in den charmanten, aber armen Sänger von nebenan verliebt, rettet die Situation. Sie, ihr Schwarm Casimir und der maskierte Pitzelberger selbst imitieren die Italiener, die bornierten Besucher finden es toll. So ist der erfolgreiche Gastgeber Casimir etwas schuldig, und sei es die Zustimmung zur Liaison mit Ernestine.

Das ist kein großes Welttheater und die bissige Gesellschaftssatire steht in der Inszenierung von Rita Schaller auch nicht im Vordergrund. Es ist nette, flotte Unterhaltung, die den Zuschauer nicht zwingt, sich in diesem oder jenem lächerlichen Verhalten wiederzuerkennen. Und es ist ein Fest für die Darsteller. Laura Scherwitzl als Ernestine kann alle komödiantischen Register ziehen, verführerisch und witzig sein und in den höchsten Tönen trällern, dass es eine Lust ist. Benjamin von Reiche als Casimir kann den coolen Loverboy und smarten Verführer geben und nebenbei noch den italienischen Tenor heraushängen lassen. Und mit Olga Dribas, die vom Klavier aus die Aufführung leitete, hatte Offenbach so viel Schwung, dass er Sänger und Zuschauer mitgerissen hat.

Und selbst nach ausgiebigem Applaus und einem Gläschen Wein in guter Gesellschaft kann man zu den Spätnachrichten wieder zu Hause sein und am nächsten Tag ausgeschlafen auf Arbeit. Offenbach ist der Meister der kleinen Form.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
15./­ 16.02.2014

MUSIKTHEATER: »Salon Pitzelberger« - Dr. Andreas Gerth - OPERAPOINT

Kurzinhalt
Der neureiche Herr von Pitzelberger hat die feine Gesellschaft der Stadt zu einer Soiree in seinen Salon eingeladen, um sich bei ihr standesgemäß einzuführen. Zum Gelingen der Abendgesellschaft soll das Erscheinen von drei italienischen Sängern beitragen, die in der Stadt in aller Munde sind. Pitzelbergers Ambitionen werden jedoch jäh ausgebremst, als nicht nur die bekanntesten Gäste, sondern auch noch die Gesangsvirtuosen absagen. Abhilfe vor der drohenden Blamage schafft schließlich Pitzelbergers Tochter Ernestine: Ihr von Pitzelberger wenig gelittener Liebhaber Casimir, sie selber und der Gastgeber stellen die Sänger dar, die vom Publikum gefeiert werden. Zum Dank erhält Casimir schließlich Ernestines Hand.

Aufführung
Der Intimität des Stückes gezollt wird die Handlung in das Theater-Café verlegt und mit Klavierbegleitung unterlegt. Zum Auftakt singen und tanzen Herr und Frau Brösel zwischen dem im oberen Theaterfoyer stehenden Publikum, bevor es zusammen in das Café geht. Hier ist der Hauptschauplatz ein mehrteiliges Podest, wobei der Raum mit zahleichen, moderne Kunstwerke imitierenden Installationen und Bildern als Sammlung des Herrn Pitzelberger angefüllt ist. Mit der Ausstattung, wie auch den Kostümen wird die Handlung somit insgesamt aus der von Offenbach vorgesehenen Epoche Kaiser Napoleons III. in ein zeitlos modernes Ambiente verlegt.

Sänger und Orchester
Offenbachs Einakter lebt und atmet seine musikalische Durchschlagskraft vor allem aus der überzeichneten Darstellung der einzelnen Figuren. Und diese Überzeichnung zündet bereits in der heiter ausgelassenen Auftaktstimmung von Felicitas Ziegler und Michael Berner, die sich als in Paris gestrandetes Ehepaar Brösel mit liebevollem Lokalkolorit sächselnd durch die Zuschauerreihen singen und tanzen. Derart angeheizt verstehen es alle Beteiligten, das Stück in einer steten Gefühlssteigerung bis hin zum Finale aufflammen zu lassen. So betört Laura Scherwitzl als Ernestine sowohl mit amourösem Charme, mit dem sie ihren Geliebten umgarnt, als auch mit ihrem klar strukturierten, in den Höhen hell leuchtenden Sopran, der zudem durch ein ausgewogenes Fundament in der Mittellage und geschmeidigem Timbre verführt. Benjamin von Reiche (Casimir) gibt spielerisch nicht nur den für sich einnehmenden Galan, sondern vor allem auch den stürmischen Liebhaber, der durch den Salon wirbelt und das Publikum in Atem hält. Insbesondere in seiner Rolle als italienischer Gesangsmime kommt sein durchschlagend eindringlicher Tenor mit brillanten Spitzen und druckvoll voluminöser Tragkraft zur Geltung. Bariton Hans-Peter Struppe gibt den Herrn von Pitzelberger, wie man ihn sich als zentralen Dreh- und Angelpunkt des Stückes nicht besser wünschen könnte: im steten Wechsel zwischen eitler Selbstverliebtheit, gehetzter Verzweiflung, unschuldiger Naivität und noblem Snobismus. Herrlich ausgelassen überdreht agieren auch Kristin Hui-Ting Yu, Carsten Arbel, Mi.Seon Kim und Won Jang, die als Gäste der „feinen Gesellschaft“ auftreten und die Absurdität einstudierten Kunstsinns der Protagonisten zum Greifen nahe plastisch vor Augen führen.

Fazit
Mit der spielerisch ambitionierten Umsetzung des Stückes und Verlagerung in die Intimität des Theater-Cafés gelingt es, einen ausgelassen heiteren Strudel musikalischer Kleinodien zwischen den Themen Liebe und musikalischem Kunstsinn in spritzig jugendlicher Leichtigkeit zu entfachen. Die Zeit vergeht bei dieser quicklebendig, durch den Salon wirbelnden Inszenierung wie im Flug, so daß man sich auf Grund der herrlich überdrehten Leistung aller Beteiligten noch lange an die Aufführung erinnern wird. Bravo!

Dr. Andreas Gerth
OPERAPOINT
14.02.2014
Foto: Pawel Sosnowski

MUSIKTHEATER: »Le nozze di Figaro« - Crista Vogel - Sächsische Zeitung

Liebe und Intrigen am Bautzener Theater

Figaros Hochzeit wird in Originalsprache gezeigt. Wer kein Italienisch kann, erhält Hilfe.

Es ist Freitagabend im großen Theaterhaus in Bautzen. Aus dem Orchestergraben ertönt expressiv verpackte Klassikheiterkeit. „Le nozze di Figaro – Die Hochzeit des Figaro“, komische Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, Produktion vom Musiktheater Görlitz, gastiert in Bautzen. Unter musikalischer Leitung von Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti präsentieren Solisten, Chor und die Neue Lausitzer Philharmonie, die am 25. Mai vergangenen Jahres noch mit Sanguinetis Vorgänger Eckehard Stier erfolgte Görlitz-Premiere.

Der rote Vorhang gibt die Vorbühne für die erste Kammerszene frei, in der der verschuldete Kammerdiener Figaro (Geani Brad) und die agile Kammerzofe Susanna (Laura Scherwitzl) Hochzeitsvorbereitungen treffen. Graf Almaviva (Ji-Su Park) will diese verhindern. Handlungsort das spanische Städtchen Sevilla im 18. Jahrhundert. Inszenierung und Ausstattung obliegen Sebastian Ritschel. Für die packende Dramaturgie sorgt Ronny Scholz. Am oberen Bühnenrand läuft zur Originalsprache Italienisch ein deutsches Textband.

Großartige Solisten

Spontanität und Temperament beflügeln das Intrigen- und Verwirrspiel um Geldnot, Herkunft, Liebe und altes Feudalrecht, das des Grafen Anspruch auf Amouren gestattet. Da ist auch der Page Cherubino (Patricia Bänsch), der nicht nur die Gräfin (Andrey Larose Zicat) vergöttert und zum Regiment „befördert“ werden soll. Da sind der Arzt Bartolo (Stefan Bley) und seine Haushälterin Marcellina (Gabriele Scheidecker) bedeutsame Figuren des Geschehens.

Im Laufe des dreistündigen Opernabends erleben die Gäste im Bautzener Theater eine fulminant inszenierte Aufführung, in der sich die Bühne wundersam weitet und öffnet und das Farbenspiel in Weiß-Schwarz und Rot nicht nur den Blick weitet. Dank Mozarts Genialität, der das Werk 1786 nach dem Libretto von Lorenzo da Ponte in wenigen Wochen schuf (Uraufführung im Mai am Wiener Burgtheater), wuchsen die Künstler in ihren rollen zu Hochform. Selbst die Kostümierung, die vom 18. Jahrhundert bis ins Heute reicht, dient der exzellenten Aufführung, macht sie mit knappen Requisiten spannend und erlebnisreich.

All dies wird übertroffen von der faszinierenden Leistung der großartigen Solisten, des überzeugenden Chores und der Qualität der Görlitzer Philharmoniker. Sie sind alle da, die vorzüglich interpretierten Arien, Ariosi, Kavatinen oder Duette und Terzette. Wer es schafft, darf den deutschen Text mitdenken. Außerdem klopft am Ende die Moral kräftig an die Pforte. Und der Applaus der Premierengäste ist überaus herzlich.

Die komische Oper „Die Hochzeit des Figaro“ ist in Bautzen wieder zu erleben am 18., 24., 26. und 30. Januar. Die Vorstellungen beginnen um 19.30 Uhr. Am 2. Februar gibt es um 15 Uhr eine Aufführung mit Kinderbetreuung.

Crista Vogel
Sächsische Zeitung
12.01.2014
Foto: Marlies Kross

MUSIKTHEATER: »Tannhäuser oder Die Keilerei auf der Wartburg« - Jens Daniel Schubert - Sächsische Zeitung

Heinrich, mir graut vor dir

Vergessen Sie alles, was Sie von Wagners »Tannhäuser« wissen. Bei der »Keilerei« in Görlitz ist es eh alles anders.

In »Tannhäuser oder Die Keilerei auf der Wartburg« hatte Nestroy dem Richard Wagner das Heroische ausgetrieben und Carl Binder die Musik des Operngenius mit anderen Größen der Szene zu einer parodistischen Operette collagiert. Am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz ist man seit dem Wochenende ein Stück weiter. Wagner wird nicht nur mit Mozart, Verdi und Offenbach vermengt, sondern Carl Binders Komposition mit Hilfe der »Kroatenbossanova«-Band »Jochen Fünf« durch Country- und Schlagermusik ergänzt bis zum krachledernen Schuhplattler. Nestroys Handlung wird ins Heute gezogen, der gesamte Text wurde von Sebastian Ripprich neu geschrieben. (...)

Ob die „originale“ Operette von Nestroy und Binder ähnlich eingeschlagen hätte, ist schwer zu sagen. Die Überlegung, dass der Spaß an der Parodie von 1857 ein anders gebildetes, anders sozialisiertes Publikum voraussetzt, das die zitierten und parodierten Musikstücke verinnerlicht hat, ist nachvollziehbar. Der Wunsch, die „populäre Unterhaltungsmusik“ von vor dreißig Jahren und ihre Endloswiederholungen in Chartshows, bei Kaufhaus-Events und Autohauseröffnungen mit in die Veralberungsorgie einzubeziehen, liegt nahe. (...) Für den szenischen Rhythmus sorgt in Görlitz die Tanzcompany von Dan Pelleg und Marko E. Weigert. (...)

Wenn Won Jang als Landgraf Purzel mit der MPi knatternd, stabreimend über die Bühne stürzt, grinsend und kichernd die Welt des schönen Scheins zusammenstutzt und dabei seinen Schnitt macht, bekommt das Ganze sogar einen Touch von Bedeutung und Hintersinn. Oder wenn Jan Novotny als gealterter Country-Star zusammen mit seiner Partnerin, der in die Jahre gekommenen Rockerlady, noch immer sehr attraktiv in Gestalt von Patricia Bänsch, ihre Medley-Nummer durchziehen, dann bekommt das Theaterpublikum eine Erfahrung, wie „es“ immer wieder funktioniert. (...)

Barbara Blaschke liefert eine kongeniale Ausstattung zum überzogenen Spiel. Da gibt es einen grünen Wald – Keilerei meint ja nicht eine Prügelszene, sondern die Wildschweinjagd –, dessen Bäume wie Zielscheiben aussehen und beim Treffer ebenso abklappen, da ist der Venusberg eine Beauty-Wellness-Oase mit viel Spiegel, rotem Kunstleder und Plastesektgläsern. Noch skurriler sind die Kostüme, die sich selbst übertreffen, wenn die Figuren nach dreißig Jahren gezeigt werden. Mit ein wenig mehr knackiger Präzision wäre es Slapstick, wie Wolfram von Dreschenbach (Hans-Peter Struppe), von der endlos strickenden Elisabeth (Audry Larose Zicat) in den meterlangen Schal aus der Wolle des „schwarzen Schafes“ eingewickelt wird, bevor sie sich im Finstern der Seitenbühne damit stranguliert. Der zurückbleibende Wolfram parodiert daraufhin das Lied an den Abendstern und bekommt dabei von der zur mobilen Beauty-Unternehmerin verkommenen Venus (Laura Scherwitzl) die dünnen Haare gelockt.

Hier zeigt sich, wie subtil Binder ursprünglich mit Wagners Musik umgegangen ist, wenn er aus der ergreifenden Arie ein banales Mitsinglied herausarbeitet. Ulrich Kern und die Neue Lausitzer Philharmonie treffen diesen Ton genau, die „Jochen Fünf“ erweitern den Sound, leider nicht sichtbar live, sondern nur lautsprecherverstärkt aus den Tiefen der Unterbühne. Die Sänger werfen sich mit großem Elan in ihre Rollen, geben je nach Temperament ihrem Affen Zucker. Sängerisch ist gutes Niveau zu erleben mit einigen, auch unerwarteten Höhepunkten. Cool Patricia Bänsch im Country-Fach, unglaublich wie Audrey Larose Zicat unmittelbar nebeneinander kultiviert singen und ekstatisch schreien kann, Laura Scherwitzl als sinnliche Venus und herrlich Won Jang, der mit kraftvoller Stimme singt und nicht nur überaus deutlich, sondern ausgesprochen pointiert seine Dialoge gestaltet.

Görlitz‘ Tannhäuser hat fast nichts mit Wagner zu tun. Von Nestroy stammen bestenfalls Stückanlage und Idee, Binders intelligente Musikparodie ist gerade noch ein Mosaikstein. Große Kunst, bewegende Momente, nachhaltige Erkenntnisse muss man mit viel Fantasie suchen, am Reim nicht zu verzweifeln fordert ein gerüttelt Maß an Durchhaltevermögen. Hingehen und sich einlassen, wäre ein Tipp. Hinterher weiß man, warum es einem nicht gefallen hat oder aber man hat sich – heimlich oder unheimlich – doch amüsiert.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
18.11.2013
Foto: Marlies Kross

SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL: »Karasek - Ein Schurke und Held« - Andreas Herrmann - Sächsische Zeitung

Räuberei als politische Grundkompetenz

Das Abenteuerspektakel auf der Jonsdorfer Waldbühne offenbart überraschende Karrierenwenden.


Der Stachel sitzt: Karasek, gern zum Robin Hood der Oberlausitz stilisiert, ist eigentlich ein Tischler aus der Nähe von Prag und flüchtiger Wehrdienstverweigerer. Als ihn die Feldjäger nahe der böhmischen Grenze umstellt haben, befreit ihn eine marodierende Räuberbande aus Sachsen. Er tritt dieser bei, wird nach dem Tod des Chefs mangels guter Alternativen zum Anführer gewählt und spinnt eine geschickte politische Intrige, bei der drei großspurige Steuersparer auffliegen und ihn der ganz große Landeschef und schnell hochbefördert. Ob dass nun Landtag, Landrat oder gar Kulturraumsekretär bedeutet, bleibt offen. Schlaue Räuberei gehört somit zur politischen Grundkompetenz damals wie heute.

Axel Stöcker, der bereits im Vorjahr die Neufassung von „Winnetou 1“ für die Waldbühne Jonsdorf schrieb, liefert nun auch die Spielvorlage für die diesjährige Uraufführung an gleicher Stelle. Er setzt sich bewusst von Ralph Oehmes Bautzener Version von 1995 ab, der sein Werk für das Deutsch-Sorbische Volkstheater passenderweise „Volksstück von Johannes Karasek, genannt Schrecken der Oberlausitz“ nannte, für die man einst zehn Herren und nur eine Dame brauchte. Nun ist jener Karasek, beruhend auf der Sage vom „Prager Hans“ dank seiner quasi-moralischen Grundsätze zu gleich „Ein Schurke und Held“, wie der Untertitel verrät. Denn er hat als frischer Räuberhauptmann strikte Maximen: Er nimmt es nicht von Armen und wildert nicht im eigenen Revier.

Nun braucht das Genre Abenteuerspektakel eine große Besetzung. Diese meistert Zittauers Schauspielintendantin Dorotty Szalma mit fünfzehn Darstellern, 35 Statisten und vier Pferden auch in Massenszenen gut, subtiles Spiel ist auf der akustisch empfindlichen Lichtung sowieso nicht angebracht. Mit Marc Schützenhofer als Karasek und Stefan Sieh als erstem Gegenspieler, jenem Freiherrn von Kyaw, der im schön nachgebauten Schloss von Hainewalde (Ausstattung: Beate Voigt) herrscht und den Zittauer Textilfabrikanten Ferdinand Göttler um Reichtum und Tochter bringen möchte, hat sie die passenden sportlichen wie stimmgewaltigen Protagonisten beim Kampf um die Macht in der Region, der als gelungener Pointe nicht in artengerechter Hinrichtung, sondern mit mehrfachem Happy End schließt.
Nun benötigt echter Freiluftdampf textlich den Holzhammer und dabei gehört Übertreibung zum Handwerk. Doch gerade die minutenlange sexuelle Aufladung mittels diversen, teilweise hornalten Latten-Scherzchen, die zudem auch keinerlei Entsprechung im weiteren Spiel erfährt, ist gerade beim inzwischen allseitig gepflegten Verzicht auf eine Altersempfehlung (wohl erst für Leute ab acht aufwärts sinnvoll), verzichtbar. An einigen Stellen hakt auch die Story selbst: Dass ausgerechnet der anfangs angeschossene Strähnlich (Thomas Werrlich) überlebt und dann auf Geheiß Karaseks zum König rennt, um zu petzen, scheint ebenso unlogisch wie der ungerächte Schuss von Kyaw auf Räuberboss Palme. Doch beides braucht es als Konstruktion, um einerseits Karasek zum Chef zu gerieren, andererseits damit dessen äußerst diffiziler Plan aufgeht, in dem just zur Sekunde der Hinrichtung der König per Sänfte aus Dresden einreitet und ein gehöriges Tribunal mit entgegengesetztem Ausgang veranstaltet.

Wo die Königin sächselt
Aber hier wird das Ganze dann zur Komödie: Sabine Krug sächselt als König ihre Befehle, nachdem sie zuvor der Intrige von Karasek aufgesessen und die von Kyaw enttarnt hat. Letzter verschwindet im Kerker – und der arme Tischler kommt statt seiner ins Schloss - und hat von nun an hier gut für Kultur zu sorgen.

Vier Minuten stehende Ovationen waren die Folge, die nächsten vier Vorstellungen sind allesamt ausverkauft – bei knapp eintausend Plätzen und den alljährlichen Bauhürden, die sich die Gemeinde Jonsdorf pünktlich zu Sommerzeit immer wieder einfallen lässt, um die Besucherstöme zu entschleunigen – ist das durchaus auch im sachsenweiten Vergleich sensationell. Kein sächsisches Theater hat wohl eine höhere Outdoorquote in der Zuschauerbilanz als das Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater stehen. Entscheidend ist dabei nicht nur der Reiz der beiden romantischen Spielstätten, sondern auch eine Sache des Fleißes: 15 Vorstellungen im Klosterhof und 20 auf der Waldbühne versprechen trotz dünnster Personaldecke über drei Monate Zittauer Freiluftbespielung. So werden Katinka Maché und Marc Schützenhofer, die in beiden Inszenierungen das große Liebespaar geben – je nach Witterungsausfällen – wohl gemeinsam mit den beiden Bautzener Gullivers mit je 35 Auftritten sachsenweit an der Spitze der Tabelle von Sommerhauptrollen liegen und den wohlverdientesten Urlaub genießen.

Auch sonst frappiert die Ähnlichkeit der Charaktere in der Besetzung mit dem „Spiel von Liebe und Zufall“ im Klosterhof: Neben den sich zierend-piesackenden Helden sind dort vier weitere Ensemblestützen zu sehen: Ludwig Hollburg spielt hier den (diesmal bürgerlichen) Vater der Schönen, allerdings weit unterwürfiger und wechselhafter. David Thomas Pawlak ist jeweils der dreiste, aber verhinderte Aufrührer, dort als Diener hier als roter Räuber. Und Renate Schneider sorgt hier wie dort als Dienerin respektive Gouvernante für die komischen Momente. Nur Stefan Sieh, dort gerissener, aber lieber Bruder, hier als Freiherr von Kyaw der böse Hauptheld, darf nun hoch oben im Grenzwald von Jonsdorf, mehr seiner Künste zeigen.

Andreas Herrmann
Sächsische Zeitung
14.07.2014

SCHAUSPIEL: »Das Spiel von Liebe und Zufall« - Andreas Herrmann - Sächsische Zeitung

Doppelte Verwirrung als harter Charaktertest

Sommertheaterstart im Zittauer Klosterhof - bei zehn Grad und Dauerregen inspiriert Stefan Wolfram ein Sextett zum Spiel mit Liebe, Zufall und Wetter.

Natürlich geht es noch schlimmer: Vor just vier Jahren waren es sieben Grad plus feiner Regen, der den Eisheiligen huldigte und die Zittauer Klosterhofpremiere von Oscar Wildes "Das Bildnis des Dorian Gray" zum Mythos auf der nach unten offenen Wetterskala werden ließ. Am Freitag, zum sächsischen Sommertheaterstart anno 2014, waren es zwar satte drei Grad mehr, dafür geriet der Regen stärker und ausdauernder.

Regisseur Stefan Wolfram, landesweit gut gebuchter Experte für Freilufttheater, der zudem jüngst bei der Uraufführung seines eigenen "Kafka" in Chemnitz zeigte, dass er zudem ein Faible für die ganz große Abstraktion besitzt, kennt Ort wie Ensemble bestens. Er inszenierte fürs Gerhart-Hauptmann-Theater schon die jüngsten beiden Karl-May-Versionen auf der Jonsdorfer Waldbühne. Beide wurden Publikumsmagneten.

Nun hat er die kleinere Freiluftspielstätte des Hauses mit "Das Spiel von Liebe und Zufall" aus der Feder von Pierre Carlet de Marivaux, einer klassischen Liebes- und Verwechslungskomödie, zu bedienen. Und er überrascht als sein eigener Ausstatter schon vor Beginn mit einem Perspektivwechsel: Das Publikum blickt nicht wie üblich auf die schlanke, weiße Kirchsilhouette, sondern gen Norden auf den prächtig blühenden Park samt der verwitterten Grabsteine.

Davor reicht ein edel-braunes Holzrondell samt großer weißer Tafel als Spielfläche und ein freistehendes hohes Fenster mit ewig langer weißer Gardine, die bei Sommerwetter sicher im Wind flattert statt nass auf der Wiese zu liegen, zum Verweis auf jene adlige Zeit, als die Hochzeiten einer möglichen Liebe vorgelagert war.

Der Weg als Ziel ins Doppelglück
Dass die Handlung in Paris vor fast dreihundert Jahren spielt, bemerkt man nur an Namen und dem barock angehauchten Sprachgebrauch, ansonsten verweisen farblich klare Kostüme und etliche Einwürfe auf die Zeitlosigkeit der ewigen Problematik. Denn es geht schlicht um den Zufall von Liebe in Zeiten des Ehepartnerdiktates. Dorante (Marc Schützenhofer) und sein Diener Arlequin (David Thomas Pawlak) kommen ins Haus von Monsieur Orgon (Ludwig Hollburg), um dessen Töchterlein Silvia (Katinka Maché) auf deren Tugend wie Tauglichkeit zu testen.

Um diesen Test der üblichen Trügereien zu berauben, tauschen Herr und Diener Rolle und Klamotten. Doch die kecke Silvia als mögliches Opfer tut parallel mit ihrer Kammerzofe (Renate Schneider) das gleiche, während ihr Vater und ihr Super-Bruder Mario (Stefan Sieh), die von beider Pläne wissen, dem Spiel amüsiert zuschauen und deren Eskalation geschickt schüren.

Die Schwierigkeit der Konstellation, die als Vorlage für Mozarts "Cosi fan tutte" berühmt wurde: Das Publikum weiß - wie Vater und Bruder - sofort um beider Finte und so bleibt nur noch der Weg zum avisierten Doppelglück spannend. Dieser ist gespickt mit recht witzigen Dialogen und auch tiefer schürfenden Monologen in Sachen Liebes- wie Eheerwartung, aber kann mangels Spannung leicht schief gehen. Wolfram gelingt der Spagat dank idealer Besetzung aus seinem Sextett und gönnt den beiden Hauptrollen die stärksten Momente: Marc Schützenhofer spielt den ganz schnell unter seiner Idee bitter leidenden Edelmann bis zum glücklichen Schluss genüsslich aus - er will jene Silvia (oder Lisette), selbst wenn sie nur betörende Zofe wäre. Renate Schneider sorgt als frauenschlaue Lisette, die plötzlich zur Silvia aufgestiegen, bekommt was sie will (und was sie verdient, also Arlequin), mit ihrer überbordenden Mimik für die komischsten Momente.

Dabei die äußeren Premierenumstände als theaterwidrig zu bezeichnen, greift nicht zu kurz, denn Tänzer wie Musiker hätten, unter Rücksicht auf ihr leidendes Instrumentarium, schnell kapitulieren müssen. Nicht so die Zittauer Schauspieler samt ihrem Publikum - alle hielten durch, alle drei Akte erlebten ihre gelungene Taufe. Dabei wurde nicht von ungefähr durchgezogen, denn für kein anderes sächsisches Theater - abgesehen von den Landesbühnen mit ihrer riesigen Felsenbühne zu Rathen - ist die Sommerbespielung so wichtig für den eigenen Etat.

So gönnt sich das Ensemble schon seit den Intendantenzeiten von Roland May den stressigen Luxus, neben der Waldbühne in Jonsdorf parallel noch den lauschigen Klosterhof regelmäßig bis Mitte August zu bespielen. Was für die ganze Hausbesatzung heißt: reichlich ein Viertel Jahr Freiluftabhärtung. Und das mit großem Erfolg, denn seit Jahren bleibt nur selten einer der 99 Plastikgartensessel im Garten hinter dem kleinen Fastentuchmuseum frei. So war der heftig raschelnde Premierenapplaus des tapferen, aber arg vermummten Publikums ehrlich verdient.

Klosterhof Zittau am 21. & 23. Mai sowie 6., 7. & 13. Juni (je 20 Uhr); Karten: www.g-h-t.de

Andreas Herrmann
Sächsische Zeitung
19. Mai 2014

SCHAUSPIEL: »Gabriel« - Rainer Kasselt - Sächsische Zeitung

Das unerwünschte Kind

Die deutsche Erstaufführung der schwarzen Tragikomödie "Gabriel" in Zittau bekommt viel Beifall.

Die junge Mutter will ihr Baby nicht sehen. Julie hat den Jungen vor wenigen Stunden entbunden. Sie weigert sich, ihn zu stillen. "Ich hätte ihn aussetzen und den wilden Tieren zum Fraß vorwerfen sollen." Geburtshelfer John ist fassungslos, versucht sie zu besänftigen. Doch Julie will fernsehen, wirft wütend die Fernbedienung nach ihm, als er das Gerät ausschaltet.

Die schwarze Tragikomödie "Gabriel" verlangt dem Zuschauer einiges ab. Das Stück der 35-jährigen schottischen Autorin Catherine Grosvenor erlebte am Freitagabend im Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater seine deutsche Erstaufführung. Die stimmige Übersetzung besorgte Dramaturgin Kerstin Slawek. Gespielt wird auf der intimen Seitenbühne des Theaters. Die Autorin greift das oft tabuisierte Thema der fehlenden Mutterliebe auf. Sie schreibt knapp, radikal, drastisch, bissig, auch sentimental. Eine Vorlage, die den Schauspielern viel Raum für die Interpretation lässt.

Warum kann Julie ihr Kind nicht lieben? Ist sie eine liederliche Person, die nur ihr Vergnügen sucht, mit ihren Freunden gern einen hebt? "Sie wissen überhaupt nichts über mich", faucht sie den Krankenpfleger an. Julie hat die Schwangerschaft verheimlicht, lebt allein, vom Vater des Babys hat sie sich getrennt, eine flüchtige Bekanntschaft. Katinka Maché zeigt die Figur als eine isolierte, verlorene, depressive junge Frau, die vergeblich Halt im Leben sucht und nicht fähig ist, dem Kind ein Halt zu sein. Sie fühlt Leid und eigenes Versagen, kann es aber nicht in Worte fassen. Die Schauspielerin, seit Saisonbeginn neu im Ensemble, spielt mit großem gestischen und körperlichen Einsatz. Ihre Julie krümmt sich unter Schmerzen, ergibt sich dem Alkohol, schreit und tobt und kann es einfach nicht fassen.

Die Inszenierung des polnischen Gastregisseurs und Ausstatters Lukasz Witt-Michalowski bringt Verständnis für Julie auf. Man wird als Mutter nicht geboren, man wird zur Mutter erst gemacht. Durch Partner, Freunde, familiäres Umfeld. Das alles vermisst Julie. Der Regisseur erzählt das Stück nicht voller Betroffenheit, sondern ist offen für Hoffnung und Vergebung. Zwischen die manchmal alptraumhaften Szenen setzt er ein farbiges Video, zeigt die Entpuppung einer Raupe zum Schmetterling. Überraschend ist die Fähigkeit des Säuglings, bereits vom ersten Tage an seine Nöte und Wünsche artikulieren zu können. Das sorgt für Humor und Turbulenzen. Der Pfleger schenkt dem hinreißenden Kind den Namen Gabriel, weil er ihn an den gleichnamigen Engel erinnert.

Stefan Sieh, ein Zittauer Theaterliebling, schlüpft als Erwachsener in Windelhose und Strampler, was vor allem beim weiblichen Publikum für jauchzendes Entzücken sorgt. Der Schauspieler zieht als Gabriel viele Register seines Könnens, er springt, tollt und quengelt, will Mittelpunkt sein, bettelt um Aufmerksamkeit, entwickelt Freundschaft zu John, sorgt sich um ihn. Ein berührender Moment: Das Kind, dem Mutterliebe versagt bleibt, verströmt Mütterlichkeit. Die Dialoge zwischen John und Gabriel geraten hin und wieder zum medizinischen Ratgeber, werden didaktisch und damit langweilig.

Die Figur des Krankenpflegers ist zu einseitig angelegt. Er ist immer zur Stelle, zeigt für alles Verständnis, wird zum Vaterersatz und Vorbild für den Kleinen. Immer nur gut und verständnisvoll, wer ist das schon? Keine leichte Aufgabe für David Thomas Pawlak, der sich aber wacker schlägt. In der ersten Szene tanzt er wuselnd und flehend um Julies Krankenbett herum, ist mehr Gigolo als Geburtshelfer.

Die Inszenierung geizt nicht mit Comedy-Elementen, verliert aber nicht die Ernsthaftigkeit und entlässt die Zuschauer nachdenklich. Die Aufführung bekräftigt den Anspruch der Zittauer Schauspielintendantin Dorotty Szalma, das Theater mit neuen Spiel- und Ausdrucksformen zu bereichern. "Gabriel" ist bereits die dritte deutsche Erstaufführung des Hauses in dieser Spielzeit. Das Publikum dankt es mit reichem Beifall.

Rainer Kasselt
Sächsische Zeitung
08./­09.03.2014

THEATERFESTIVAL: »3Länderspiel« - Andreas Herrmann - Dresdner Neueste Nachrichten

Das "3Länderspiel" am Hauptmann-Theater Zittau stößt in neue Dimensionen vor

Alles braucht seine Zeit. Also Geduld. Das gilt insbesondere für Grenzkultur, sobald sie übergreifen soll. Ein besonderes Pflänzchen davon reift seit zweieinhalb Jahren im östlichen Dreiländereck: In Anspielung auf die drei markanten Hausberge - also Jested, Oybin und Sniezka - gebaren die drei Intendanten aus Liberec, Zittau und Jelenia Gorá das Bündnis "J-O-Ś". Sein Auftrag: eine länder-, also sprachübergreifende Kooperation der drei naheliegenden Schauspielsparten zu etablieren - mit dem schlichten Ziel der trilapidaren Völkerverständigung. Dazu dienen sollen gegenseitige Gastspiele, trinationale Festivals und - als Krönung - gemeinsame Produktionen.

Seit fast einem Jahr arbeitet im Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater (GHT) ein Projektbüro an der Umsetzung des Credoʻ und legte nun mit dem dritten Zittauer "3Länderspiel" eine gelungene Bestandsaufnahme mit sieben Produktionen aus sechs verschiedenen Häusern an drei Tagen vor, die mit der Resonanz von insgesamt 591 Zuschauern die Vorjahrgänge klar übertraf. 16 Freaks schauten sich per Festivalpass gar alles an. Zum Vergleich: 2013 waren es an zwei Tagen bei sechs Vorstellungen aus fünf Theatern in drei Sprachen rund 400 Zuschauer.

Zittaus Schauspielintendantin Dorotty Szalma, die im Sommer aus Wien an die Mandau wechselte, brachte sofort die Idee eines Gastlandes ein und holte aus ihrer ungarischen Heimat, genauer aus Békéscsabai "König Lear" nach Zittau - also knapp drei Stunden großer Shakespeare auf Ungarisch mit Übertiteln -, so dass das ihr erstes Festival sofort mit der vierten Sprache in eine neue Dimension vorstieß.

Für die Eröffnung des Festivals am Donnerstag stand mit Bogdan Kocas theatraler Installation "The Last Sentence before Execution" zuerst eine eigene Premiere an. Und die bot in einer knappen Stunde starken Tobak: Inspiriert von der Reaktion von George W. Bush auf den 11. September, der jeden, der nicht mit ihm sei, zum Feind erklärte, und schon 15 Wochen später am Sydney Art Theatre uraufgeführt, entführt Koca die Zuschauer als Spanner in eine bevorstehende Hinrichtung auf der nur vage beleuchteten Bühne. Der Delinquent sitzt gut verschnürt und anonym verpackt im weißen Hemd und atmet schwer. Davor und dahinter schleicht stets unmerklich und wortlos ein Wächter mit Strumpfmaske und Hut (David Pawlak) herum.

Für die öffentliche Exekution hat der Todgeweihte einen letzten Satz, der stellvertretend von einem guten Schauspielprofi (Ludwig Hollburg) gesprochen wird, aber zuvor von "unabhängigen Experten editiert", also zensiert ist. Es folgt, kunstvoll in Thomas-Mann-Manier ohne Punkt, aber mit Kommata über Seiten gestreckt, die Lebensbilanz und anklagende Fragen - immer wieder unterbrochen durch den Zensur-Peep und dem Einspiel "Gestrichen!", sobald es konkret wird.

Ganz allmählich wird klar: Da vorn sitzt ein Angestellter, der immer treu dem eigenen System diente, und nur dank ihm unbekannter Neudefinition der Spielregeln zum Terroristen erklärt und nun gerichtet wird. Er nutzt seine letzte Chance und dreht den Spieß um.

Ab und an kündigt der Monolog die Anzahl der folgenden Worte bis zum Tod an. So wird auch das Umfeld und die Kulisse angeprangert: unbeschreibliches Gänsehauttheater ohne Ausflucht.

Unmittelbar danach entführte das Liberecer Saldy-Theater mit "Mickey Mouse is Dead" in die abgefuckte urbane Großstadtwelt. Auch hier führt der Autor Tomáš Dianiška selbst Regie, allerdings mit seinen drei Schauspielerkollegen Karolína Baranová, Barbora Kubátová und Tomáš Váhala gemeinsam, die allesamt in schwarzes Leder gekleidet ein doppeltes Beziehungsdrama abliefern, in deren Ablauf nicht nur die die berühmte Maus für tot erklärt wird. Das geschieht wild bis anarchisch, unter steter Sucht nach Flucht, meist in naheliegendes. Gut gespielt, aber kaum in Erinnerung bleibend.

Ebenso wie "Spot!" vom Lubuski-Theater in Zielona Gorá. Simon Turkiewicz inszeniert seine Collage aus sinnfreien Werbe- und TV-Slogans. Er kleidet sein Quartett ganz in Weiß und lässt kein gutes Haar an der schönen, neuen Konsumwelt seiner Heimat und flicht die subtile Kritik in ein grelles Teilzeit-Musical mit steter Videounterstützung.

Mehr zu erzählen haben die Kollegen vom Norwid-Theater aus Jelenia Gorá, die sich in "Miedzianka" dem Roman von Filip Springer widmen. Dieser erzählt von der Geschichte von Kupferberg in Niederschlesien, also in direkter Nachbarschaft des Theaters. Kurzzeit-Heimkehrer Adam, der in Dänemark zwölf Stunden täglich schuftet, möchte per Dok-Film seiner neuen Umwelt (inklusive der finnischen Verlobten) beweisen, dass die Polen nicht so schlimm sind. Doch hier warten "die Erinnerer", eine sechsköpfige Brigade, die ihn in verschiedenen Episoden an die Geschichte seiner Heimat erinnern, um ihn zurückzuholen. Eine Mission, die scheitern muss - schließlich war Kupferberg ein blühendes deutsches Dorf mit Lager nebenan, dann plötzlich für vier Jahre ein riesiges sowjetisches Uranbergwerk und wurde 1973 fast komplett abgerissen - dafür ein witziger, unterhaltsamer wie informativer Theaterabend.

Dass die Theater der Nachbarländer in Frische und Selbstironie das deutsche Uraufführungswesen gern übertreffen, ist keine neue Erkenntnis. Ebenso, dass sie dank harmonisch aneinander gewachsener Ensembles über Kraft per Erfahrung verfügen, die echte künstlerische Flops nahezu ausschließen.

Für das mutige Zittauer Experiment bleibt als Fazit nach drei Jahrgängen, dass neben der Geduld stete Evaluation gut tut, um die Ausstrahlung in den Kulturraum zu erhöhen, also vermehrt auch Bautzener und Görlitzer Theaterfans sowie Besucher aus den großen Ex-Industriedörfern des Oberlandes zu gewinnen.

Denn für die begonnene grenzüberwindende Kulturevolution braucht es einen langen Atem, womöglich über mehrere Intendantengenerationen hinweg. Noch kommen öffentlicher Gedankenaustausch und der Festivalcharakter in Form von anwesenden Ensembles samt künstlerischer Führung ein wenig kurz.

Ganz in diesem Sinne kündigte Dorotty Szalma für 2015 eine Neuproduktion, für die drei Autoren aus drei Ländern gewonnen werden, an: "Es wird im Sommer geschrieben und soll dann fester Bestandteil des Repertoires aller drei Häuser werden." Würdiger Ort der abschließenden gemeinsamen Schreibklausur: das Gerhart-Hauptmann-Museum in Jelenia Gorá. Und Szalma geht noch weiter: "Eine Erweiterung des "3LänderSpiels" auf alle drei Länder ist zugleich Ziel und Wunsch für die Zukunft. Zuvor muss das Festival jedoch noch an Bekanntheit gewinnen." Ein kluger Schachzug war die Einbindung der drei Theaterjugendclubs. Szalma erläutert: "Es ist die erste von drei Phasen einer intensiven Zusammenarbeit der Jugendlichen aller drei Länder, die zweite Phase wird in Jelenia Góra, die dritte in Liberec stattfinden."

Andreas Herrmann
Dresdner Neueste Nachrichten
02.02.2014
Foto: Pawel Sosnowski

THEATERFESTIVAL: »3Länderspiel« - Frank Seibel - Sächsische Zeitung

Hinterm Horizont gehtʻs weiter

Das Zittauer Theaterfest "3Länderspiel" fasziniert mit Grenzöffnungen.

Wie lang ein einziger Satz sein kann! Eine Stunde mit Kommas und Gedankenstrichen - aber ohne Punkt. Das Wesen, das ihn spricht, ist dem Tod geweiht. Ein Satz noch, dann handelt der Henker. Eben noch war im Foyer des Zittauer Theaters vom Baby die Rede, das noch wachsen wird und in eine gute, aufregende Zukunft aufbricht. Doch der nächste Schritt führt ins Dunkel auf der Hinterbühne. "Der letzte Satz vor der Hinrichtung" ist ein beklemmendes Stück des polnischen Autors und Regisseurs Bogdan Koca, das auf den Satz des damaligen US-Präsidenten George W. Bush nach dem 9. September 2001 zurückgeht: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Eine Figur in Weiß, sitzend, mit einem schwarzen Karton über dem Kopf; große Billardkugeln auf schwarzen Wänden; ein gesichtsloser Wärter mit schwarzer Maske - dazu eine Stimme aus dem Off, die die Gedanken des Verurteilten spricht. Es war ein ungewöhnliches Theatererlebnis, mit dem am Donnerstagabend das "3Länderspiel" eröffnet wurde. Vor zwei Jahren gehörte Bogdan Koca noch selbst zum Kreis der Intendanten im Dreiländereck, die das Festival als dauerhaftes Projekt begründet haben. Ein "Baby" nannte er das Projekt bei Vertragsunterzeichnung im Jahr 2011. Seither hat es sich gut entwickelt. Selbstbewusst und experimentierfreudig präsentierte es sich am Eröffnungsabend. Eine Horizonterweiterung. Genau hierin sieht der Görlitzer Landrat Bernd Lange das Einmalige des Theaters in Zittau. Mit dem "3Länderspiel" finden Menschen trotz unterschiedlicher Sprachen durch das Theater eine gemeinsame Sprache, sagte Lange. "Wir brauchen solche Projekte in unserer Region. Daher wird das Zittauer Theater von mir nicht infrage gestellt", betonte Lange. Schon Bogdan Kocas Eröffnungsstück zeigte, wie weit Theater gehen kann. Auf der Bühne passierte nichts, eigentlich ist das Ganze eine Installation mit Hörspiel. Und doch beharrt Koca darauf: "Es ist ein Stück, keine Installation." Claudia Reh aus Dresden wiederum schaffte mit drei Projektoren, Sand, Wasser, Farben und Scherenschnitt-Figuren einerseits Bilder auf einer Leinwand im Foyer - andererseits erzählte sie, ganz ohne Schauspieler, poetische Geschichten. Ihre lichtgrafische Installation "Fractures" war ein kleines Wunder, handgemacht, einmalig und daher scheinbar altmodisch in Zeiten der allgegenwärtigen Computersimulation.

Der dritte Akzent des Eröffnungsabends war ein Albtraum: "Lieber Gott, mach, dass das eine Halluzination ist. Amen" - Dieses Tischgebet zweier Frauen und zweier Männer ist gleichsam der nach Erlösung schreiende Refrain im irrwitzig-abgründigen Stück "Mickey Mouse is dead" der Gruppe Divadlo F.X. Saldy aus Liberec. Sex, Drogen, Gewalt, irres Gelächter: Diese Grenz-Öffnung brachte eine großstädtische Härte in die oft so liebliche Lausitz. So schafft es das 3Länderspiel, viele Facetten der Region an einem Punkt zu verdichten.

Dieses Baby kann weiter wachsen.

Frank Seibel
Sächsische Zeitung

SCHAUSPIEL: »Alice im Wunderland« - Andreas Herrmann - Sächsische Zeitung

Traumhafter Ausflug ins Unterland

In Zittau reist Alice auf Katzensuche hinab ins Wunderland und erlebt ein komplettes Märchen mit begrenztem Personal.

Alice allein vorm Baum im Garten. Eigentlich nicht ganz, aber Schwesterlein Dorotty liest gespannt ein Buch ganz ohne Bilder, während Katze Dina ein davonflitzendes Kaninchen verfolgt - und mit ihm in einem Baumspalt verschwindet. Die gelangweilte Göre (Paula Schrötter) springt tollkühn hinterher und wirft nach langem Flug und weicher Landung das rasende weiße Kaninchen (Stefan Sieh) wieder, welches aus Angst vor Unpünktlichkeit bei jedem Zeitverweis in Panik verfällt. Mitten in ihrem erträumten Wunderland!

Doch auch dort ist das Leben kein Ponyhof: Als die sprechende Tür und die Raupe im Wunderpilz, beides eigentlich lustige Gesellen, das Mädchen veralbern und es per Zaubertrunk und Pilzstück zusammenschrumpft, weint es erst ein Tränenmeer und kommt dann gestärkt aus dem Reich der Blütenkönigin zum Endspiel mit der bösen Herzkönigin, den sie dank Kaninchenlist gewinnt. Natürlich glaubt Alice, als sie mit ihrer Katze zurück auf die Erde gelangt, keiner die Story, auch nicht die weiterhin lesende Dorotty (Kerstin Slawek).

Der Zweikampf zwischen Paula Schrötter und Sabine Krug prägt das Stück, beide agieren souverän - das fesch-naive Mädchen vergisst aus Tierliebe ihre Angst und besiegt die herrische Herzkönigin, deren Lieblingsbefehl "Kopf runter" ist. Das Kaninchen in Form von Stefan Sieh, der reich würde, wenn er statt nach Haustarif pro Kilometer bezahlt würde, schmiedet den finalen Komplott, worauf vermutlich die ganze Herrschaft kollabiert. Mit Kerstin Slawek und Ludwig Hollburger gewann das Theater zwei wandlungsfähige Mimen. Und David Pawlak war es als letztem ungeköpften Spielkartensoldaten in großer Form vorbehalten, gegen die Stellenkürzung im Hofstaat zu protestieren.

Gastregisseurin Christine Wipplinger - in Salzburg geboren, in Wien wirkend - griff bei ihrem sächsischen Debüt auf die Fassung von Jan Bodinus zurück und erarbeitete daraus eine eigene Textfassung, ergänzt um einige Lieder, die vor allem Paula Schrötter souverän meisterte. Der Text blendet alle möglichen Verweise ins spätere Jugendsündenleben aus und funktioniert familiengerecht, nur einige Wortwiederholungen sind unnütz. Ausstatterin Beate Voigt schuf üppige Kostüme, nur jene Gestalten, die durch die Gegenwart huschten, trugen schlichte schicke Sportschuhe. Besonders schön: Das schnelle weiße Kaninchen im fellbesetzten schwarzen Frack und die Blumenkönigin, als sie in voller Größe auf Alice zuschwebt.

Schöne Lösungen gelangen auch für die beiden Phasen der Schrumpfung von Alice, indem ihre Umwelt, also die Türen und die Unterwelt mit einem kleinen Lady-in-Red-Filmzitat per Licht und Gebläse unterm Rock und für das Endspiel mit Hummer und Igel. Die Mittel der Bühnenillusion sind eher klassischer Natur, nur dass das Chaos kurz vorm Happy End in schwingenden Hängepartien für Herzkönigin, ihrem Schwachkopf als Mann und dem Kaninchen jeweils im Gurt am Seil enden muss, scheint unnötig.

So bleibt für Alice die Erkenntnis, dass sich ein Trip in die Unterwelt durchaus lohnen kann. An die Strahlkraft der aufwendigeren Produktionen aus den Vorjahren, also Charles Dickensʻ "A Christmas Carol" und Jewgenij Schwarzʻ "DIe verzauberten Brüder", kommt "Alice im Wunderland" nicht heran, was auch an der Story selbst liegt. Dennoch wird der alljährliche Weihnachtszauber am Gerhart-Hauptmann-Theater weitergehen: Seit Jahren sorgen die eigens aufgelegten Märchenstücke nicht nur für viel Freude in den Familien, sondern auch an den Kassen: Fast zwei Drittel der insgesamt 36 Vorstellungen waren bereits vor der Premiere restlos ausverkauft. Mit acht statt sechs Vorführungen haben nun auch die jungen Görlitzer Schauspielfreunde eine höhere Kartenchance.

Vor allem in der finalen Spielszene, in der sich die choreografische Mitarbeit der beiden Görlitzer Ballettchefs Dan Pelleg und Marko E. Weigert auswirkt, und im abschließenden Epilog als Abgesang wird deutlich, welcher Schwerstarbeit die sechs Schauspieler huldigen: Denn obwohl das komplette Sextett auf der Bühne war, fehlen zehn Rollen. So fragten sich die Kinder, denen man das Stück von fünf bis zwölf uneingeschränkt empfehlen kann, beim herzlichen Schlussapplaus, wo denn zum Beispiel Grinsekatze und Blumenkönigin (jeweils Sabine Krug), Suppenschildkröte, Schlafmaus und Igel (alle Kerstin Slawek) geblieben sind. Auch Märzhase, die sprechende Tür oder die lustige Pilzraupe (allesamt Ludwig Hollburg) sowie Hummer und Hutmacher (David Pawlak) sind nicht da, weil die Akteure nur in ihrer Endform auflaufen können.

Derart verdoppelte sich bei der Premiere am Sonnabend ironischerweise die Akteursanzahl, als das komplette Regieteam auf die Bühne trat. Doch ob dieser subtile Appell an die Kulturpolitik wirkt, ist fraglich, denn er müsste dank deren Abwesenheit über Umwege angetragen werden.

Andreas Herrmann
Sächsische Zeitung
25.11.2013

SCHAUSPIEL: »Yvonne, Prinzessin von Burgund« - Sandro Zimmermann - kultura-extra.de

Das Schweigen des Lamms macht Angst

Der hiesige Intendanten-Ringelrein bescherte auch dem kleinen Theater im fernen sächsischen Osten eine neue Schauspielleitung: Dorotty Szalma, bislang als freie Regisseurin vor allem in Deutschland und Ungarn unterwegs, hat nun das Heft in der Hand und die Reitstiefel an, wie die Saisonbroschüre zeigt.

Sich mit einem weithin unbekannten Stück eines ebenso unbekannten polnischen Dramatikers, einer Groteske gar, zum Antritt vorzustellen, spricht für Mut, Coolness, vielleicht auch für eine Falscheinschätzung des hiesigen Publikums. Kein Hauptmann, kein deutscher Klassiker, keine Weltliteratur, kein Stück mit Regionalbezug, einfach ein Werk über das Leben und die Menschen darin. Ich zolle Vorschuss-Respekt.

Und es ist – im Nachgang betrachtet - unbedingt zu wünschen, dass diese Inszenierung eine Weile trägt und auch in Görlitz und anderswo ein Wohlgefallen findet. Verdient hat sie es allemal.

In Zittau bin ich befangen, ich geb es zu. Hier war ich als Kind, leider viel zu selten, und das Haus strömt – erst recht nach der Sanierung – ein warmes Gefühl von Heimat aus, von dort, wo man immer viel zu selten ist (meine Mutter wird das bestätigen). Eine scharfe Bar hat man sich ins hübsche Foyer gebaut, wo ich auch tatsächlich einige Menschen entdecke, die die Dreißig noch nicht überschritten haben, selbst im zahlenden Publikum.

Clever entzieht man die letzten fünf Reihen mit spanischen Wänden dem Saal. Es wirkt gleich viel voller, und immerhin sind fast 150 Menschen erschienen, die an einem Oktoberfreitagabend Lust auf Theater haben. Einer der besseren Tage sicher.

Ja, das Haus ist meist zu groß für Zittau, oder nein, Zittau ist meist zu klein für dieses Haus. Doch man bemüht sich, Liberec liegt genauso im Visier wie Bogatynia, wie ich beim Faust im letzten Jahr erfreut bemerken durfte. Nur so kann es gehen.

Genug der Kulturpolitik, wir reden jetzt von Kunst.


* * *


Der Saisonauftakt ist ein Tritt in die Eier, das ist doch schon mal eine Botschaft. Danach ein disharmonischer Hofstaat im Takt, nein, lieber Nachtkritiker, die können das sicher besser, waren aber absichtlich unkoordiniert. Eine Atmosphäre wie früher bei der Kampfdemonstration, man winkt und tattert ins Publikum, das cool mit Beifall reagiert.

Prinz Philipp (Stefan Sieh mit der in Summe stärksten Leistung des Abends) ist gelangweilt vom höfischen Zeremoniell. Doch er beginnt weder zu saufen noch geht er zur RAF, sondern er macht das hässliche Entlein zur Verlobten. Provokation pur.
Das königliche Elternpaar is not amused, aber käme aus der Nummer nur mit einem Skandal wieder raus, bleibt also aus Gründen der Staatsräson drin. Wir haben nun eine Tochter.

Das Stück ist ein Kleinod, ein Lehrstück nach Brecht fast, auch wenn es sich angeblich an Büchner orientiert. Es stellt sehr gemeine Fragen, und es entlarvt gnadenlos, wie die Gesellschaft mit Außenseitern umgeht. Im (sehr guten) Programmheft sind die wesentlichen Zitate als Schriftband enthalten, es lohnt, sehr langsam zu lesen und zwischendurch auch mal nachzudenken.

Da ist also diese Yvonne, die von der Natur nicht eben reichlich bedacht wurde und außerdem störrisch schweigt. „Mit der könnt ihr machen was ihr wollt“, weiß der Volksmund, aber so einfach ist das nicht. Wer sich auf sie einlässt, scheint verloren.
Eine böse Fee, eine Hexe, eine dunkle Verführerin-wider-Willen? Von allem etwas, doch das reicht bei weitem nicht. „Die Beunruhigung“ ist sie für die normale Gesellschaft, der Punk, der vor dem Edeka sitzt und entgegen aller Logik glücklich ist.

„Wer sich nicht bewegt, ist nicht zu fassen“, dichtete Herr Regener mal. Und wer den Mund hält, ist nicht zu bekehren, setze ich hinzu.

Da ist sie also einfach da bei Hofe, zufällig hineingeworfen in des Prinzen Menschenexperiment, und schweigt. Und guckt. Und die Mauern von Jericho beginnen zu wackeln.

Diese Rolle war die mit Abstand schwerste von allen. Es ist wirklich schade, dass Paula Schrötter sie nicht voll ausfüllte. Man sah Ansätze, aber man sah wenig Körperspiel (auch bewegungsloses). Hier ist Luft nach oben.

Zwischenzeitlich hat Yvonne ihre Nische fast gefunden, der Spott trifft jetzt eher den Prinzen, die potentiellen Schwiegereltern spielen mehr oder weniger erfolgreich heile Welt. Doch der Kammerherr (mit beeindruckender Intonation der Ex-Radebeuler Marc Schützenhofer die Nr. 1b des Abends) weiß, dass das nicht mehr lange gut geht und beginnt Fäden zu ziehen.

In einer Nebenrolle brilliert als Innozenz Thomas Werrlich, das ist jener Zeitgenosse, der sich exakt im Rahmen seiner (geglaubten) Möglichkeiten verliebt. „Fort!“ - Yvonne spricht ihr erstes Wort.

Der Prinz sehnt sich nun nach dem Tamerlan, eine wie Yvonne ist auf Dauer zu anstrengend. Die lässt sich ihren Stoizismus auch nicht durch demonstratives Fremdgehen mit Isa (Katinka Maché spielt jene so, dass man den Fehltritt völlig nachvollziehen kann) verderben. Die Schweigende muss weg, es wird der Tod durch das Schwert gewählt, wie Prinzen halt so sind. Das gelangweilte Jüngelchen fühlt sich auf einmal als Lancelot.

Ähnliche Gedanken bewegen den König, der zudem durch Yvonne permanent an eigene Jugendsünden erinnert wird. Ludwig Hollburg gibt ihn erst als Karikatur, wird dann aber immer stärker, bis er in seinem letzten großen Monolog mich fast zum Salutieren bringt. Ist halt so drin in mir.

Auch die Königin kommt über einen anderen Rechenweg (die eigenen Gedichte) zum gleichen Ergebnis: Yvonne muss weg. Damenhaft wählt sie Gift. Sabine Krug beginnt auf höherem Niveau, ist manchmal ein klein wenig zu hysterisch-klischeehaft, bringt insgesamt aber eine tolle Leistung.

Alle diese Mordpläne scheitern übrigens an den Ausführenden oder an den Umständen. Doch das ist nicht schlimm, denn der Kammerherr hat Plan Nr. 4, Ersticken an einer Fischgräte. Röchelnd verendet Yvonne unter der großen Schleppe, die sonst den Hofstaat ummantelt und hier als Tischtuch dient.

Am Ende knien alle nieder angesichts der teuren Toten, und der König braucht einen neuen schwarzen Anzug, der alte spannt am Bauch. Sonst ist eigentlich nicht viel passiert.

Ich habe wenig zu kritteln, ein paar Längen vielleicht, eine nicht optimale Führung der Titelfigur, aber sonst…?

Ein großartiger Start, Frau Szalma! Ganz großes Kompliment! Ich drück die Daumen für die nächsten Premieren und schau gern mal wieder vorbei.


PS: Eine dramaturgische Idee vielleicht noch? Wenn man die Yvonne schon so sehr (u.a. auf genau zwei Worte) reduziert, kann man doch auch eine Puppe nehmen, eine lebensgroße? In Dresden liegt bestimmt noch eine herum. Die heißt Mignon.

Sandro Zimmermann
kultura-extra.de
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL: »Yvonne, Prinzessin von Burgund« - Rainer Kasselt - Sächsische Zeitung

Ein König in Unterhosen
Die Zittauer Schauspielchefin Dorotty Szalma gab mit einer grotesken Gesellschaftssatire ihren gelungenen Einstand.


Prinz Philipp langweilt sich zu Tode, er hasst die starren Rituale des Hofes. Da kommt ihm das hässliche Bürgermädchen Yvonne gerade recht. Man kann mit ihr machen, was man will. Sie berühren, beleidigen, beschimpfen. Sie schweigt, protestiert nicht und sagt kein einziges Wort, wenn sie als Vogelscheue oder Heulsuse, Trauerkloß oder Zimtzicke verspottet wird. Dieses Aschenputtel im grauen, ärmlichen Kleid ohne jede erotische Ausstrahlung ist für den Prinzen das geborene Opfer.
Aus einer Laune heraus beginnt er ein zynisches Spiel mit ihr. „Mein Fräulein, erklären sie uns gnädigerweise ihren Mechanismus.“ Philip will hinter das Geheimnis des weltentrückten, apathischen Mädchens kommen und gleichzeitig seinem Vater einen Streich spielen, sich den Konventionen widersetzen. Der Prinz verlobt sich mit der schweigenden Yvonne. König und Königin sind entsetzt. Sie versuchen den Thronfolger umzustimmen, geben schließlich nach, um einen Skandal zu vermeiden. Die Laune des Prinzen wird als „edelmütige Tat“ des Jünglings verkauft. „Mein Gott, ist die hässlich“, ruft der König beim Anblick Yvonnes. „Hässlich schon, doch die Tat ist schön“, meint die Königin.
Am Sonnabend erlebte im Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater die Groteske „Yvonne, Prinzessin von Burgund“ ihre begeistert aufgenommene Premiere. Mit der Inszenierung stellte sich die neue Schauspielintendantin Dorotty Szalma dem Publikum vor und gab einen gelungenen Einstand. Die ungarische Regisseurin arbeitete bisher an mehreren deutschen und ungarischen Bühnen. Das Stück des polnischen Autors Witold Gombrowicz (1904-1969) wurde 1938 in einer Zeitschrift gedruckt, aber erst 1957 in Krakow uraufgeführt. Es ist gepfefferte Gesellschaftssatire und ironisch gebrochenes Königsdrama. Gombrowicz, einer der Verfechter des absurden Theaters, ließ sich von Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ inspirieren. Im Programmheft wird der avantgardistische Autor zitiert: „Ich hatte beschlossen, für das Theater eine Technik zu verwenden, ein abstraktes und manchmal absurdes Thema auszuspinnen. Unter meiner Feder entstand eine giftige Absurdität, die mit den damals geschriebenen Stücken keine Ähnlichkeit aufwies.“

Giftig ist die Zittauer Aufführung nicht, doch es fehlt ihr nicht an satirischer Schärfe, komischen Momenten und grotesken Übersteigerungen. Die Regisseurin legt die Schichten des Stückes frei, zeigt die erstarrten Lebensformen der höfischen Gesellschaft. Dorotty Szalma vertraut der Allgemeingültigkeit der Vorlage, verzichtet auf regionale Bezüge. Sie lässt auf grauer, schräger Bühne in der Ausstattung von Beate Voigt spielen. Ein großes, weißes Tuch wird zum einzigen, vielseitig verwendbaren Requisit. Es ist riesige Schleppe, die den fünfzehnköpfigen Hofstaat zusammenhält. Es ist Liebesnest, in dem sich der Kammerherr mit sieben leicht bekleideten Damen vergnügt. Und es wird am Ende zum Leichentuch, unter dem die Prinzessin von Burgund verröchelt. Denn das Experiment des Prinzen geht schief.
Yvonne, die weiter schweigt, wird zur Provokation des Hofes. Von ihr geht eine diffuse Bedrohung aus, die keiner benennen kann, doch jeder fühlt. Man möchte die Störende beseitigen. Der König will Yvonne erdrosseln, die Königin will sie vergiften, der Prinz erdolchen. Doch der Kammerherr hat einen eleganteren, die Fassade wahrenden Vorschlag. Die feine Gesellschaft wird zum feierlichen Gastmahl gebeten. Serviert wird grätenreicher Fisch, an dem Yvonne erstickt. Und der Prinz kniet in gespielter Reue an Yvonnes Grab nieder und beugt sich den Konventionen. Die alte Ordnung ist wieder hergestellt.

Die Form der Groteske, in ihrem Wechsel von Realität und Überspitzung, ist eine Herausforderung für jedes Theater. Das Zittauer Ensemble besteht sie. Vor der Pause gibt es einige Hänger, da verliert sich die Spannung, doch danach geht es in die Vollen. Der Hofstaat: ein willfähriger Tross von Speichelleckern und Heuchlern, der jeder Laune des Herrscherpaares folgt, immer den eigenen Vorteil im Auge. Herausgeputzt wie ein Karnevalszug bewegen sich die Marionetten des Königs, winken auf Befehl, krümmen sich auf Verlangen, ducken sich bei Gefahr. Eine starke Leistung der Zittauer Truppe, glänzend choreografiert von Dan Pelleg und Marko E. Weigert.

Aus dem Ensemble ragen einige Darsteller heraus. An erster Stelle ist Marc Schützenhofers Kammerherr zu nennen. Er ist diplomatischer Kopf, schleimiger Berater des Königs und intriganter Wendehals. Er macht jede Schweinerei mit und ist es nie gewesen. Die Königin Sabine Krugs ist eine hysterische Hyäne, klüger als ihr Mann, biegsamer und geschmeidiger. In Gedichten lebt sie ihre heimlichen Begierden aus. Prinz Philipp wird von Stefan Sieh als Heißsporn und Trotzkopf verkörpert, ein junger Mann auf der Suche nach dem eigenen Ich. Seinem stürmischen Spiel fehlt noch das rechte Maß für den Wechsel der Gefühle. Als stumme Yvonne steht Paula Schrötter, neu im Ensemble, auf der Bühne. Sie spielt, meist in kerzengerader Haltung, ihr Schweigen als Protest gegen die feindliche Umwelt, lässt sich bei allen Schikanen ihre würde nicht nehmen. Ludwig Hollburg verkörpert den König, spielt ihn mit Krone und in Unterhosen, verrenkt und verdreht die Glieder, zappelt und tänzelt, treibt die Groteske auf die Spitze. Hollburg ist Jammerlappe, Wüterich, Angsthase und Lüstling in einem, eine wahrhaft komische Figur.

Rainer Kasselt
Sächsische Zeitung

14.10.2013
Foto: Pawel Sosnowski

TANZ

TANZ: »Kurzstrecke Görlitz-Zittau« - Ramona Faltin - Oberlausitz Leben

Premieren-Glücksfall

Die Premiere von KURZSTRECKE GÖRLITZ-ZITTAU bot mehr als den Glücksfall, die alte und neue Tanzcompany am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitzer-Zittau zu erleben.


Der Abend begann mit einem Videoclip. Theaterkollegen der Tänzer - Schauspieler und Dramaturgen hatten mehrere Kurzfilme gedreht, die von Zusammenarbeit, Distanz und Außergewöhnlichem zwischen Görlitz und Zittau erzählten. So wurde jedes Tanzstück von einem Video eingeführt: ein zwar durchschaubares, dennoch funktionierendes dramaturgisches Manöver, dem Auge Abwechslung in der zweistündigen Aufführung zu bieten. Doch die eigentliche Qualität von „Kurzstrecke Görlitz-Zittau“ liegt in der Vielfalt der tänzerischen Ideen, in der genreübergreifenden, choreographischen Variante, die hin zur Konzeptkunst strebt. Spannende ästhetische und terminologische Charakterisierungen sind zu erleben: Schon lange leisten Tänzer mehr als Tanz: Sie singen, dichten, sprechen, spielen und choreographieren die Stücke selbst – so auch in den Tanzstücken „Kurzstrecke Görlitz-Zittau“. Bewegungsprinzipen zwischen Fallen und Aufrichten, zwischen Miteinander, Füreinander und Gegeneinander zwischen Spannung und Entspannung sorgen für aufmerksame Begeisterung. Energiegeladen, fließend, berührend, fragmentiert – die Tanzstücke haben viele Facetten. Faszinierend fundierte Körpertechnik bildet die Basis für wunderbare Dialoge zwischen emotional-tänzerischen Qualitäten und der Musik.
Bezaubernd und mitreißend verbinden sich die Bewegungen von Leila Bakhtali mit Balkan Beat und visuell verschwimmenden Ornamenten im Stück „Es war niemals“. Tausend erzählte Märchen sind in meinem Herzen - überzeugt sie tanzend das Publikum.
Ein anderes Stück, eine Videosequenz bietet dem Zuschauer einen Blick aus einem Loch im Asphalt: in den Himmel, in einen Regenbogen: was für ein einfacher und schöner Perspektivwechsel! Niko von Harlekin erspürt und choreographiert das „erfolgreichste englische Wort“ HALLO in dem Tanzstück Tsundoku1123 in buchstabierenden Bewegungen und Haltungen. Marko E. Weigert nimmt sich in seinem Videoclip UND ER RENNT, der Frage an, die wir uns wohl schon alle gestellt haben: Kann ich wohl schneller als die Straßenbahn sein? Zumindest auf Kurzstrecken?
BOX – heißt der atemberaubend-schöne Tanz mit riesigen Kartons, den Lital Ben-Horin und Mami Kawabata zu schwedischem Folkrock von Garmana vollführen.
Sechzehn Tänzer stehen im letzten Stück BLOCKIERT auf der Bühne, Tänzer der alten und neuen Tanzcompany – nicht nur deswegen war die Premiere ein Glücksfall. In Kurzstücken beeindruckte die Oberlausitzer Tanzcompany mit hohem künstlerischem Anspruch und einem Universum an tänzerischen Sequenzen und Empfindungen. Unbeschreiblich. „Kurzstrecken Görlitz – Zittau“ muss man sehen.

Ramona Faltin
Oberlausitz Leben
29.06.2014

TANZ: »Kurzstrecke Görlitz-Zittau« - Anne Jung - Sächsische Zeitung

Geschichten über das Leben
Die Tanzcompany des Görlitzer Theaters zeigt in ihrer neuen Produktion kurze Choreographien und Filme.


Um von Görlitz nach Zittau zu fahren, braucht man mit der Bahn 35 Minuten, mit dem Auto ein wenig länger. Eine Kurzstrecke eben, und so nennt sich auch die neue Arbeit der Tanzcompany des Gerhart Hauptmann Theaters. Unter der künstlerischen Leitung von Dan Pelleg und Marko E. Weigert entstanden 13 kurze Choreografien und acht Kurzfilme unterschiedlichster Couleur und Qualität.

Um es vorweg zu nehmen, schlecht ist keines der Stücke, aber schon kurz nach der Aufführung hat das eine oder andere nur noch Nebelspuren im Gedächtnis hinterlassen, während andere noch lange in Erinnerung bleiben werden. „Kurzstrecke Görlitz – Zittau“ präsentiert Stücke von Weigert und Pelleg und befreundeten Choreografen, aber auch einige von den Tänzerinnen und Tänzern. Machen Sie sich den Spaß und lesen Sie das Programmheft erst nach der Aufführung, dann sehen Sie die Stücke ohne Erwartungen und können sich überraschen lassen, von wem welche Arbeit stammt.
Das ist nicht immer offensichtlich, zum Beispiel „flos in obscurum“ von Dan Pelleg enttäuscht, die schönen und geheimnisvollen Frauen in den Reifröcken werden viel zu schnell ausgezogen und damit entzaubert. Hier und nur hier wünscht man sich dann doch eher die Langstreckenvariante. Seine anderen Choreografien sind gewohnt souverän und fantasievoll, wie das zauberhafte Duett „Happily ever after“, dass er mit Nora Hageneier zu „Halleluja“ von Jeff Buckley tanzt oder die spielerische Inszenierung „Box“, die „Schmetterlingsdefekt“ zitiert, das er zusammen mit Marko E. Weigert choreografierte und 2013 als erfolgreiche Wiederaufnahme in Görlitz zeigte.
Eine positive Überraschung hingegen ist das märchenhaft skurrile Stück „Es war niemals“ der Tänzerin Beatrice Panero, bei dem man meint, Wes Anderson hätte ihr dabei heimlich über die Schulter geschaut. Ein anderer Tänzer, der Brite Tylor G. Deyn, gehört zwar erst seit März zur Gruppe, dass er schon ein eigenes Stück zeigt, lässt vermuten, dass Weigert und Pelleg große Stücke auf ihn halten. Seine Arbeit „euphoric depression“ ist ästhetisch klar, er bleibt zwar zuweilen noch in Klischees hängen, findet aber auch starke Bilder und macht neugierig auf mehr.

Intensität, die ins Herz geht
Der absolute Höhepunkt des Abends stammt von der Choreografin Sommer Ulrickson. In „Fremdkörper“ zeigt sie in eindringlichen Bildern das Gefühl des Fremdseins und der Unmöglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Wie Fernando Balsera Pita hilflos stammelt oder Niko van Harlekin in der Unfähigkeit einer Reaktion gefangen angewurzelt auf der Bühne steht, entwickelt eine Intensität, die direkt ins Herz geht.
Interessanterweise deprimiert dies nicht, man fühlt sich im Gegenteil versöhnt und erkannt, sei es in den Momenten, wo man vergeblich versucht, Kontakt herzustellen oder als der/­die Andere, der darauf nicht reagieren und dieses nicht annehmen kann. „Fremdkörper“ illustriert damit eindringlich das Credo des Abends, dass es für außergewöhnliche Kunsterlebnisse nicht der langen Form bedarf.
Es ist eigentlich eine der großen Begabungen des Choreographen-Duos Weigert und Pelleg, dass ihre Geschichten immer im Fluss sind und Wechsel und Umbauten als künstlerische Elemente genutzt werden. Leider nicht an diesem Abend. Die Kurzfilme könnten ein Bindeglied zwischen den Stücken sein, unterbrechen sie stattdessen und wirken aufgesetzt, das ist schade, denn einige sind durchaus interessant.
Mit einem weiteren Höhepunkt wird nach fast zweieinhalb Stunden der Geschichtenreigen geschlossen. In „Blockiert“, einer Choreografie aus den Anfangstagen der Gruppe, zeigen sich noch einmal die choreografischen Fähigkeiten der beiden künstlerischen Leiter und das Können dieser sympathischen und talentierten Company. Das Publikum, wenn auch WM bedingt eher bescheiden in der Anzahl, dankt mit großem und verdientem Applaus und geht mit vielen Gedanken in eine regnerische Sommernacht.

Anne Jung
Sächsische Zeitung
30.06.2014

TANZ: »Schmetterlingsdefekt« - GHT-Tanzcompany auf Tour in Israel

Ein Abend von Tanz und Inspiration
Chen Sivan, Ofnaʻit, 19/­02/­2014

Im Zentrum des Abends "Schmetterlingsdefekt", inspiriert durch das Prinzip des Schmetterlingseffekt aus der Chaostheorie, in welcher die Abhängigkeit einer Ereigniskette von einem zufälligen, scheinbar bedeutungslosen Geschehnis am Beginn abgehandelt wird.

In Dan Pellegs und Marko E. Weigerts Stück... begeben sich sieben Tänzer auf eine Reise zwischen sieben riesigen Kartonkisten (von der Art, die für Kühlschranktransporte verwendet werden) und einem Dutzend kleinerer Kartons. Vier Tänzerinnen in schwarzen, scheinbar einfachen jedoch präzis unterschiedlichen Kleidern, drei Tänzer in schwarzen Hemden und Hosen. Diese visuelle Reinheit und dieser Kontrast stellen die Gesamtheit der Bühne dem Geschehen zur Verfügung.

Und - wow! - was für ein Geschehen. Als die Vorstelllung vorbei war, habe ich mich etwas extrem ausgedrückt, wozu ich jetzt, 24 Stunden danach, noch immer stehe: seit 45 Jahren schaue ich mir zeitgenössischen Tanz an und hatte noch kein vergleichbares Stück gesehen.

Der Rhythmus, die Freude am Schaffen und an der Darstellung, die Schönheit, die Virtuosität, die in Erstaunen versetzende Präzision und die herzerwärmende kindliche Verspieltheit.

Die Tänzer bewegen sich zwischen den Riesenkartons, bewegen sie, stellen sie auf den Kopf, erklettern sie und fallen von ihnen hinunter, bauen sie auf und reißen sie nieder, errichten eine Art Zelt oder Hochzeitsbaldachin und einen Eiffelturm.

Sie tanzen gemeinsam und einsam, in wechselnden Paaren und in Gruppen, in aufregender Meisterschaft, akrobatisch bewegen und heben sie sich gegenseitig (er sie und sie ihn) in einer endlosen Sequenz tänzerischer Erfindung. Das Vergnügen ist pur und offenkundig - sowohl das der Tänzer als auch das der Zuschauer.



Schmetterlinge im Bauch - Beim Tanz, wie bei der Liebe, wenn eine Sache einem im Bauch kribbelt, braucht sie keine Erklärungen
Gal Barkan, Reʻu Huzhartem, 19.02.2014

und dann gingʻs los: sieben schwarzgekleidete Tänzer, riesige Kartonkisten und eine Kreativität, die kein Ende nimmt. Der Atem stockt einem vor lauter Schönheit. In den letzten Jahren habe ich den Eindruck bekommen, dass Schönheit im Bühnentanz fallengelassen wurde zugunsten des Ehrgeizes verschieden, anders, originell zu sein, etwas zu sein, das kein Anderer schon vorher erdacht hat, etwas, was dem Publikum einen Schlag ins Gesicht versetzt. Die Musik wird disharmonisch, die Bewegungen gebrochen.

Dan und Marko versuchen das nicht. Sie sind Genies der Schönheit und Ästhetik und aus diesem Fehlen an Anmaßung entsteht doch etwas Verschiedenes, Anderes, Originelles, in einer unbeschreiblichen Vielfalt an Wegen. Man muss es sehen, um es zu verstehen. Wenn ich das Thema des Stückes beschreiben müsste, ohne die Stückbeschreibungen zu beachten, würde ich sagen, dass es dabei um das menschliche Geflecht, um die Zweisamkeit, das einer-in-der-Gruppe-Sein und das gegen-die-Gruppe-Sein geht. Ihre Tänzer haben Spaß - stetig. Sie spielen, lachen, sprechen - all das ohne im Geringsten die technische Perfektion des Tanzens zu schmälern, die teils hochkomplex ist (nicht nur dadurch, dass die Kisten im Stück miteinbezogen werden).

In einem Duett eines Tänzers und einer Tänzerin in einem für sie gebauten Kartonhaus habe ich fast geweint. Ich verrate nicht, warum - geht und schaut es euch an. Woanders habe ich gelacht, und mein Herz - das musste die ganze Zeit Überstunden absolvieren.

TANZ: »Romeo und Julia« - Boris Gruhl - Dresdner Neueste Nachrichten

»Romeo und Julia« mit der Tanzcompany und der Neuen Lausitzer Philharmonie in Görlitz

So tief, so weit, so nah am Publikum. Allein schon dieser Bühnenraum von Till Kuhnert birgt so viele Assoziationen zum Geschehen um William Shakespeares Tragödie von der tragischen Liebe zwischen Romeo und Julia, die so nah in der weiten Ferne zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Verona und Mantua spielt und seit ihrer ersten Aufführung um 1595 immer wieder Menschen zutiefst berührt.

Mit der Uraufführung des Balletts von Sergej Prokofjew, 1938 in Brünn, kam eine neue, gänzlich wortlose Variante der Interpretation dazu. Auch wenn andere Tragödien und Komödien Shakespeares, jenem unbekannten "Landlümmel aus dem Drecknest Stratfort", wie ihn Alfred Kerr nannte, Komponisten und Choreografen zu vielen getanzten Varianten angeregt haben - mit Prokofjews Ballettmusik kam die bislang erfolgreichste Anregung dazu.

Natürlich denkt man an die leuchtenden Beispiele maßgeblicher Choreografien, Leonid Lawrowski 1940 in Leningrad, John Cranko 1962 in Stuttgart, Kenneth McMillan 1965 in London, Maurice Béjart 1966 in Brüssel, John Neumeier 1971 in Frankfurt, oder jüngst in Dresden Stijn Celis. Und jetzt in Görlitz. Und jetzt ganz anders. Eine weitere neoklassische Variante war bei der Tanzcompany von Dan Pelleg und Marko E. Weigert nicht zu erwarten. Und nachdem gerade in Bratislava ein Versuch ins Leere ging, die Rivalitäten der Straßengangs à la "West Side Story" mit Breakdance, Hip-Hop und anderen Street-Dance-Varianten aufzufrischen, durfte man gespannt sein.

Es gibt in Görlitz keine Geschichte von Romeo und Julia, von den Montagues und den Capulets, es gibt kein Maskenspiel, keinen Pater Lorenzo, keine Amme, kein Gift, keinen Dolch, kein tragisches Missgeschick mit tödlichen Folgen. Es gibt die Musik, es gibt den Tanz, und in der Choreografie von Pelleg und Weigert in Zusammenarbeit mit der Company gibt es kein Pardon. Immer wieder setzten die elf Tänzerinnen und Tänzer mit regelrecht sportiver Akrobatik das Publikum in Erstaunen, wenn in gefährlichen Situationen genau jene schutzlosen Situationen, in die sich Romeo und Julia um ihrer Liebe willen begeben, sichtbar gemacht werden. Dabei gibt es in dieser Inszenierung keine gänzlich klaren Festlegungen der Rollen, jeden kann es treffen, jeder der Tänzer kann in die verzweifelte Situation eines Romeo kommen, jede der Tänzerinnen kann eine Julia sein, die Emotionen gehen mit ihnen durch, Gefahren und Abgründe werden übersprungen. Hier wird auf Assoziationen gesetzt und auf die Fantasie der Zuschauer.

Im hinteren Teil des tiefen Bühnenraumes das Orchester. Zwischen den Musikern und der über den Orchestergraben bis an die Zuschauer herangeführten Tanzbühne zwei mächtige schwarze Flächen, die sich wie riesige, überdimensionale Wippen auf und ab bewegen lassen. Da gibt es eindrückliche Bilder bei der Suche nach dem Gleichgewicht, beim Kampf gegen dessen Verstörungen. Wir sehen die flüchtigen Bilder des Stillstandes und gleich darauf die Abstürze ganzer Gruppen und einzelner Tänzer, wenn sich diese beweglichen schwarzen Flächen in gefährliche, steile Schrägen verwandeln. Es geht aufwärts und ebenso schnell abwärts, allein der Stillstand, auch das mögen flüchtige Bildassoziationen vermitteln, ist tödlich.

Aber es gibt auch die Momente der Ruhe, des Innehaltens. Zu Beginn, je auf einer der großen Schrägen, durch eine Schlucht getrennt, am Ende zusammengefügt, jeweils aufgebahrt, die Kleider einer Julia und eines Romeo.

Die Menschen haben den Zwang ihrer Geschichten verlassen und legen konsequent die Kostüme von Markus Pysall mit den historischen Verweisen auf die Herkunft ihrer Geschichten ab. Viele Geschichten, immer im Blitzlicht der raschen Vergänglichkeit, haben wir dann gesehen, manchmal mehr erfühlt als begriffen, wenn einem Rätsel der Unentrinnbarkeit schon das nächste folgt. Ein Motiv aber kehrt immer wieder. Die ganze Company, angetrieben von der Musik, in kraftvollen Sprungschritten mit hoch gerissenen Beinen, als gelte es, unsichtbare Türen oder Begrenzungen mit aller Gewalt und mit letzter Kraft einzutreten.

Der musikalische Antrieb dieses Abends geht vom Orchester aus. Das ist ein großer Abend für die Neue Lausitzer Philharmonie unter der Leitung ihres neuen Generalmusikdirektors Andrea Sanguinetti. In der reduzierten Orchesterfassung von Tobias Leppert sind die wesentlichen Motive und Passagen enthalten. Ob in den kräftigen Kampfszenen, in der zarten Musik der Balkonszene, dramatisch oder lyrisch, der Klang des Orchesters ist von nicht nachlassender Spannung und Präsenz.

Boris Gruhl
Dresdner Neueste Nachrichten
29.01.2014
Foto: Marlies Kross

TANZ: »Romeo und Julia« - Bernd Klempnow - Sächsische Zeitung

Romeo und Julia auf der großen Wippe

Letztes Jahr im Käfig, diesmal auf gigantischen Monstern - die Tänzer der Lausitz überraschen immer wieder. Auch wenn sie beim Prokofjew mogeln.

Das ist selten: Nach fünf Minuten ist klar, ob die neue Tanzproduktion vom Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/­Zittau gefällt oder nicht. Angekündigt ist das Sergej-Prokofjew-Ballett "Romeo und Julia". Es erklingt auch die Musik live durch die Neue Lausitzer Philharmonie. Nur die elf Tänzer erzählen ganz andere Geschichten als die der Liebenden von Verona. Und nach wenigen Minuten scheint auch das Bewegungsvokabular weitgehend erschöpft - doch dann geht die Materialschlacht los.

Die Tänzer schieben zwei überdimensionale Wippen ins Zentrum, die - je nach Aufstellung und Drehrichtung - Rampen sind oder Berge, die Abgründe oder Inseln symbolisieren können. Waagerecht festgestellt dienen die Wippen als eine zweite, eine Art Parallelspielfläche zum Tanzboden. Die Tänzer jagen und springen auf diesen schwankenden und per Drehbühne rotierenden Monstern herum, schwingen sich empor, werfen sich gegenseitig hoch. Es wird einem angst und bange. Wenn nur einer fehltritt!

Diese nervöse Spannung ist offenbar gewollt, denn die Company zeigt in gut anderthalb Stunden, wie erbarmungslos und selbstherrlich die Masse Außenseiter klein- und fertigmacht. Die choreografierenden Regisseure Marko Weigert und Dan Pelleg befragen Shakespeare und Prokofjew neu. "Für uns ist jede/­r eine Julia oder ein Romeo", sagen sie selbst. Sowohl in den Bewegungen als auch in den historisch-zitierenden Kostümen ist diese geschlechtsneutrale Personalführung klar erkennbar.

Der Ansatz ist interessant und die Suche des Teams nach anderen Zugängen zum Tanz wieder eindrücklich. Schon bei früheren Produktionen hat die Lausitzer wie keine Truppe im Freistaat mit ungewöhnlichen Podien verblüfft. Markant war beispielsweise in der vergangenen Saison das Stück "Alpha 1" mit einem bühnengroßen, käfigartigen Gerüst, auf und in dem die Tänzer agierten. Weil in diesem alternativen Raum jegliche Flächen fehlten, entstand eine andere, neue Tanzsprache. Diesmal gelang diese Verfremdung eben durch die Wippen, auch wenn sich, wie beim Käfig, alsbald zwangsläufig die Bilder ähneln. Da ist eigentlich nach einer Stunde alles gesagt: Doch es ist ja noch so viel Musik übrig.

Prokofjews Vorlage dauert gut 120 Minuten. In Görlitz spielt die Philharmonie - akustisch gut auf der Hinterbühne statt im engen Graben platziert - schon nur eine gut 90-minütige Fassung. Es fehlt also bereits manche musikalisch-markante Szene. Und das ist die Krux von dieser "Romeo und Julia"-Produktion. Die Ensembleleiter wollten dem Publikum den Wunsch nach dieser Ballettmusik erfüllen - vor Jahren gab es hier eine attraktive neoklassische Inszenierung. Und sie erklingt unter dem neuen Chefdirigenten Andrea Sanguineti auch fast makellos in ihrer überwältigenden Schönheit. Aber auf ihre dramaturgisch und psychologisch genial aufgebauten Motive gehen die Inszenatoren nur bedingt ein. Freilich war das dem erstaunlich jugendlichen Publikum im dicht gefüllten Haus egal. Es applaudierte der sympathischen Truppe herzlich zu.

Bernd Klempnow
Sächsische Zeitung

KONZERT

KONZERT: »Feuerwerk« - Karsten Blüthgen - Säschsische Zeitung

Feuerwerk mit Ladehemmung

Prächtiger Mozart trifft märchenhaften Strawinsky im letzten Saisonkonzert der Neuen Lausitzer Philharmonie

Wiener Klassik trifft Neoklassizismus auf sinfonischem Terrain. Zum recht zeitigen Saisonabschluss der Sparte Konzert bietet die Neue Lausitzer Philharmonie unterm neuen Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti das Programm „Feuerwerk“. Diesen Titel spendet Igor Strawinskys Fantasie für Orchester op. 4, ein lapidares Paradestück voller harmonischer Kühnheiten. Am Donnerstag in Zittau sorgte es für einen feurigen, aber recht fahrigen Auftakt.

Genauer, aufmerksamer, auch schwelgerischer kam der zweite Strawinsky am Schluss des Abends auf die Bühne. Es mag mit am fantasievollen Märchenstoff liegen, der in der „Feuervogel“-Suite farbenreich zu Musik wird. Iwan Zarewitsch begehrt Zarewna. Der Zauberer Kastschej hält sie mit anderen Prinzessinnen gefangen. Dank der goldenen Feder des Feuervogels gelingt es dem Königssohn, die Zaubermacht zu besiegen und die Schönen zu befreien.

Sanguineti spürte dem Reichtum bildhafter Klänge und musikalischer Stimmungen mit Eifer nach und sorgte für plastische Szenarien. Ob Tanz des Feuervogel, Prinzessinnen-Reigen, die Ungeheuer Kastschejs oder die reanimierten prächtigen Ritter zum Finale – das Publikum im gut besuchten Zittauer Theater kam auf seine Kosten und dankte herzlich.

Prächtiges, Feuriges war auch bei Mozart zu hören, wenngleich Wünsche offen blieben. Sanguinetis Zugriff auf die Sinfonie g-Moll KV 183 und das Konzert für Flöte und Harfe geriet zu forsch. Kontraste wirkten plakativ überzeichnet, die Metren der schnelle Sätze zu hart. Einzig der sanft federnde Duktus im Anadante-Satz der Sinfonie zeigte eine feinere Lesart.

Stars der Staatskapelle brilieren
Im Doppelkonzert vermittelte Sanguineti indes sensible zwischen Orchester und den Solisten des Abends. Sabine Kittel (Flöte) und Astrid von Brück (Harfe) – beide spielen in Solopositionen bei der Sächsischen Staatskapelle – trafen den Mozart-Ton sehr genau. Nie suchten sie nach dem vordergründig Leichten, sondern nach Melancholie von Schönheit. Ungetrübt sonnig ist diese Musik allenfalls auf den ersten Blick.
Während der Reise nach Paris, als das Konzert entstand, hatte Mozart seine Mutter verloren. Die Intensität gipfelte in den Kadenzen, in denen Kittel und von Brück kammermusikalische Intermezzi von seltener Innigkeit zauberten.

Karsten Blüthgen
Sächsische Zeitung
10. Mai 2014

KONZERT: »Mein Herz brennt« - Mandy Decker - Sächsische Zeitung

Der Erlkönig prophezeite ein brennendes Herz

Die Neue Lausitzer Philharmonie gestaltete das Auftaktkonzert der 49.Hoyerswerdaer Musikfesttage.


Im Zeichen der Musikfesttage: Katinka Maché (großes Foto) interpretierte gemeinsam mit der Neuen Lausitzer Philharmonie Kunstlieder à la Rammstein. Zuvor hatte Sarah Claudia Müller (kleines Foto, mit Dirigent Markus Huber) ihren großen Auftritt: Sie hatte beim „Jugend musiziert“-Regionalfinale in Hoyerswerda die höchste Punktzahl in der Wertung Solo-Gesang erzielt. Dafür gab’s den Ehrenpreis der Stadt Hoyerswerda und einen Auftritt in der Lausitzhalle – mit Leo Delibes’ „Les filles de Cadix“.Fotos: Mandy Decker (2)
Lieder der Band Rammstein tragen die Titel „Haifisch“, „Ich tu Dir weh“ oder eben „Mein Herz brennt“. Und das sind nur die schlagzeiligenkräftigen Überschriften der Titel, die das Leben und den Tod mal eben so in Frage stellen wie den Beziehungsurstoff Mutterliebe. „Mein Herz brennt“ überschrieb die Lausitzer Philharmonie auch ihr jüngstes Philharmonisches Konzertformat und somit im gleichen Atemzug auch das Eröffnungskonzert der 49. Hoyerswerdaer Musikfesttage. Ein dramaturgischer Streich, der nach einer plätschernden Darbietung von Schuberts unvollendeter 8.Sinfonie in wohligem h-Moll, gespickt mit der drohenden „Erlkönig“-Orchesterfassung von Hector Berlioz, jene in die Orientierungslosigkeit trieb, denen die Warnzeichen dieses Vorpausenprogramms entgangen waren.

Wiegenlied im Schüttelreim
Denn die gesungenen Lebenswahrheiten von Rammstein, deren Musik dem zweiten Teil dieses Konzertabends zugrunde lag, sind nicht unbedingt Wellness für die Seele. Allerdings werden die schüttelreimigen Vertextungen der Abgründe des Seins von der Band selbst mitunter von einer Wiegenliedmelodik getragen, deren tröstende Kraft Torsten Rasch, der Schöpfer dieses polarisierenden Vortrags, den Songs brachial entreißt. Der Klassik-Echo-Preisträger (2010) macht aus den tiefschürfenden Balladen eine umfänglich verstörende Inszenierung aus Kunstlied und Sprechgesang, die -zur offensichtlichen Freude von Gastdirigent Markus Huber- von einer expressionistisch motivierten Orchesterpartitur illustriert wird. So donnert Bassbariton Hans Gröning zum Einstieg die pervers anmutenden Anklagen des bekannten Rammstein-Titels „Mutter“ bis in die obersten Reihen des Saales. Verstörte Blicke. Das Auditorium sucht einen gemeinsamen Standpunkt. Bis Sprecherin Katinka Maché breitbeinig und trotzig auf der Bühne stehend in heiseren Verzweiflungsschreien immer und immer wieder die Frage „Versteht ihr mich?“ in den Saal brüllt.
Die Wahrheit sticht – erst in die Ohren, dann in die Seele. Mancher mag kaum noch hinhören. „Ich finde die Texte brillant“, widerspricht Konzertbesucherin Katharina Michelfeit im Anschluss des zweieinhalbstündigen Konzertes einigen kursierenden Meinungen und betont, die Originalversionen der Band zu kennen. Mit den Disharmonien der Vertonung von Torsten Rasch käme sie zwar wenig zurecht, gesteht die Leiterin des Hoyerswerdaer Lessing-Gymnasiums und findet, dass die Wucht sowohl der Musik und wie auch der Texte den Zuhörer zur Entscheidung zwingt, sich auf nur eines von beiden zu konzentrieren. Dennoch rege gerade diese aggressive Interpretation zum Nachdenken an, spricht Katharina Michelfeit aus ihrem wie auch aus anderer Zuhörer Herzen.
Zwischen Kunstfalle und Bravorufen

Die zweite Halbzeit dieses Konzertes war ein Kunstgenuss, für den sich sicher viele Zuhörer bewusst entschieden hatten und der wohl auch manchen Nichtklassik-Fan hätte begeistern können. Die Dichtungen der Rammstein-Texter allerdings scheinen ein literarisches Terrain zu sein, für das sich der Zuhörer aktiv entscheiden sollte, nicht zuletzt, weil die Metaphern nicht selten ein Mindestmaß an mentaler Stabilität einfordern. Für so manchen Konzertbesucher wurde ein Sitzplatz im Zentrum des Saales an diesem Abend zur Kunstfalle. Einige schafften es, sich vorzeitig davon zu stehlen. Andere verharrten scheinbar blockiert von der Bitte des Dirigenten, dem Vorgetragenen eine Chance einzuräumen, auf ihren Plätzen. Für einen dritten Block aber war die aufreibende Agenda eines wieder einmal bemerkenswerten Eröffnungskonzertes der Hoyerswerdaer Musikfesttage Anlass genug, am Ende mit stürmischem Applaus und Bravo-Rufen mehrere Aufgänge der Interpreten einzufordern.

Mandy Decker
Sächsische Zeitung
14.04.2014

KONZERT: »Mein Herz brennt« - Ines Eifler - Sächsische Zeitung

Rammstein spaltet das Publikum

Wie die Neue Lausitzer Philharmonie nach der umstrittenen Kultband spielt, berührt, begeistert. Und irritiert.


War es 2011 die Inszenierung der Operette „Candide“, die im Görlitzer Theater für Aufregung sorgte, weil das Stück in einer Fleischfabrik spielte, spaltet jetzt das Konzert der Neuen Lausitzer Philharmonie „Mein Herz brennt“ das Publikum.
Denn die Komposition, die das Orchester seit einer Woche aufführt, adaptiert Musik der Band Rammstein mit ihren düsteren, ergreifenden, provozierenden, von manchen aber auch als gewaltverherrlichend und rechts interpretierten Liedern.

Schon als Heino im Winter Rammstein-Lieder in der Kreuzkirche singen wollte, stieß er auf Widerstand und musste sein Programm zusammenstreichen. So einen Grundsatzkonflikt, Musik der Band überhaupt zu spielen, gab es im Theater nicht.

Die von Torsten Rasch komponierte Orchesterversion und die von Bassbariton Hans Gröning gesungenen poetischen Lieder verstören keinen, der gern Schubert, Debussy und Strawinsky hört. Aber die Parts der Zittauer Schauspielerin Katinka Maché, die Provokation und Agression fast auf die Spitze treibt, sorgen für Irritationen. Erika Lüders zum Beispiel, die am Dienstag in Görlitz im Theater war, sagt, insgesamt habe das Konzert sie sehr überzeugt. „Aber die Sprecherin mit ihrer dekadenten Stimme – nein da wollte man nicht mehr hinhören.“ So empfanden es wohl auch die 20 Zuhörer, die bei der Premiere in Bautzen den Saal verließen, und alle, die sich die Ohren zuhielten. Viele andere aber waren extrem begeistert und spendeten Zwischenapplaus. Anett Böttger zum Beispiel sagt, das Lied, das andere zum Gehen brachte, sei für sie das allerbeste gewesen.

Der Dramaturg Ronny Scholz, der angeregt hatte, das 2004 in Dresden uraufgeführte Konzert auch in der Lausitz zu spielen, sah in Bautzen gemeinsam mit Torsten Rasch zu, wie die Leute rausgingen. Während der Komponist solche Reaktionen schon gewöhnt ist, dachte Scholz: „Na guck mal an, was da passiert.“ Und es bestätigte ihn darin, das Richtige ausgewählt zu haben. „Wir wollten ja, dass im Theater mal wieder etwas passiert, worüber die Leute reden“, sagt er. „Wir wollen ja, dass ein Theatererlebnis einen Abend überdauert und anhält.“ Immer nur im Kanon zu verharren, verhindere es, weiter zu wachsen. „Doch wir wollen nicht stehenbleiben.“ Das heißt aber nicht, dass in Zukunft jedes zweite Konzert provozieren soll. „Aber hin und wieder“, sagt Ronny Scholz, „muss etwas Experiment schon sein.“

Ines Eifler
Sächsische Zeitung
11.04.2014

KONZERT: »Mein Herz brennt« - Jens Daniel Schubert - Sächsische Zeitung

Rockige Texte zur sinfonischen Musik

Die Neue Lausitzer Philharmonie bietet allerlei Ungewohntes und verlangt viel von seinen Hörern


Mit der Rammstein-Liedzeile „Mein Herz brennt“ ein Sinfoniekonzert zu überschreiben, das ist ein gewagtes Unterfangen. Doch es zieht. Zumindest bei der ersten Aufführung des 6. Philharmonischen Konzertes der Neuen Lausitzer Philharmonie am Donnerstag in Bautzen war der Saal voll. Tatsächlich hat sich Torsten Rasch, Komponist aus Dresden, dieser und anderer Rammstein-Texte angenommen und daraus einen Orchester-Lieder-Zyklus komponiert. Der stand in Bautzen, leicht umgestellt und gekürzt, nach der Pause auf dem Programm.

Davor war Schubert zu hören, zwei Lieder in Orchesterfassung von Reger und Berlioz und die 8. Sinfonie, die „Unvollendete“. Gastdirigent Markus Huber formte auch daraus einen „Zyklus“, indem er Lieder und Sinfonie verknüpfte. Nach der „Nacht der Träume“ nahm der erste Satz die Stimmung auf und trug sie in die dramatische Steigerung, die eine überraschend sinnige Weiterführung in der „Erlenkönig“-Vertonung fand, die dann durch den zweiten Sinfonie-Satz weitergeführt wurde. Leider waren nicht alle Konzertbesucher bereit, sich auf diesen großen Bogen einzulassen. Nach der zugegeben mitreißenden „Erlkönig“-Interpretation durch Hans Gröning unterbrach Applaus die ungewohnte und so spannende dramaturgische Einheit aus Liedern und Sinfonie.

Gewaltige Interpretation
Die Rammstein-Vertonungen von Torsten Rasch wurden vor wenigen Jahren in Dresden und Berlin aufgeführt. René Pape und Katharina Thalbach übernahmen die Vokal-Parts, die Dresdner Sinfoniker spielten, und die daraus produzierte CD erhielt einen Klassik-Echo. Rasch nimmt die Texte der Kultband als Lyrik, als tiefgründige Texte mit weitreichender Bedeutung. Und so lädt er sie mit dem ganzen Instrumentarium eines übergroßen Sinfonieorchesters mit exzessivem Schlagwerk auf. Rasch scheut sich nicht vor malerischer Illustration, klangvollen und liedhaften Passagen. Aber er kontrastiert das auch mit dissonanten Klangflächen, schrillen Eruptionen und enervierenden, martialischen Rhythmen.

Die Neue Lausitzer Philharmonie, die schon bei Schubert ausdrucksstark auftrumpfte, kniete sich mit Eifer und vollem Einsatz in die Interpretation des ungewöhnlichen und anspruchsvollen Werkes. Bassbariton Hans Gröning und noch beeindruckender die Schauspielerin Katinka Maché nahmen sich der Texte an. Sie folgten der Intention des Komponisten, der sie den Hörern als poetische Überhöhung der Welt vorstellt und als existentiellen Aufschrei gegen Missstände entgegenschleudert. Das geht oftmals an die Grenzen des Erträglichen. Insbesondere, wenn man den Texten die behauptete Tiefe nicht abnimmt, ist man von der gewaltigen musikalischen Interpretation geradewegs erschlagen. Ähnlich wie bei Raschs unlängst in Chemnitz inszenierten Oper „Die Herzogin von Malfi“ ist dann die Frage, welchen Sinn die Qual hat, nicht schlüssig zu beantworten.
So stimmten zahlreiche Zuhörer mit den Füßen ab und verließen vorzeitig das Konzert, andere applaudierten am Schluss begeistert. Kontroverse Reaktionen auf ein Sinfoniekonzert, eigentlich ein Erfolg für so ein gewagtes Unterfangen.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
05.04.2014

KONZERT: »Heimat« - Karsten Blüthgen - Säschsische Zeitung

Pipa zu Gast im Abendland

Heimat heißt das Thema bei den aktuellen Konzerten der Neuen Lausitzer Philharmonie. Die Zittauer jubelten zur Premiere.


Chinesische Pipa trifft auf abendländisches Streichorchester. Beide führen ein inniges Gespräch, tauschen sich lebhaft, mal energisch virtuos, exaltiert, mal nachdenklich und in zarten Tönen über ihre Herkunft aus, entwickeln neue Gedanken. Die vier Sätze dieses Werks aus dem Jahre 1999 durchzieht ein eigenwillig glühender musikalischer Faden. Die Rede ist vom Konzert für Pipa und Streichorchester, das der Chinese Tan Dun 1999 schrieb. Vor drei Jahren erklang es bei den Dresdner Musikfestspielen in der Frauenkirche. Nun liegt das Konzert, zwischenzeitlich vom Komponisten überarbeitet, auf den Pulten der Neuen Lausitzer Philharmonie.

So entfesselt wie am Sonnabend in Zittau fallen die Reaktionen selten aus: viel „Bravo-Rufe“, erregter Austausch über das Gehörte beim Pausensekt. Das erste, ausverkaufte Konzert der Serie unter dem Titel „Heimat“ wurde vor allem dank des Pipa-Konzerts ein voller Erfolg. Wohl liegt es am schillernden Exotismus. „Meine Musik ist ein Mosaik; dieses Mosaik enthält sehr, sehr viele Elemente aus verschiedenen Traditionen und Kulturen, aber diese Elemente ergeben ein Ganzes“, sagt der 1957 in Hunan geborene Tan Dun. Als Kind erkundete er seine Heimatprovinz, sammelte zur Unzeit der Kulturrevolution Volksmelodien und ging damit 1986 nach New York.

Seit dem Oscar für seine Filmmusik zu „Tiger and Dragon“ im Jahr 2000 zählt Tan Dun zu den Gefeierten unter den Ost-West-Grenzgängern. Auch sein Pipa-Konzert fragt nach Herkunft und Identität. Es fragt auf optimistische, spielerische Weise. Die Orchestermusiker sollen neben dem konventionellen Spiel auf ihren Instrumenten stampfen, jaulen und klatschen. Dazu mischt sich der geradezu überirdische Klang der chinesischen Laute Pipa, die in Ya Dong eine wahrlich noble Spielerin gefunden hat. Das Zittauer Publikum musste nach dieser so stürmischen wie empfindsamen Darbietung begeistert sein.
Aber es zeigte sich auch den anderen Werken des Abends nicht abgeneigt. Der Amerikaner Charles Ives warf einen komponierenden Blick auf seine Heimat, als diese ins Ragtime-Fieber fiel. Ives‘ vier „Ragtime Dances“ sind vertrackt, mal geschmeidig, mal sperrig, mischen Euphorie mit Ironie. Wahrlich keine leichte Aufgabe für ein Orchester, dessen Alltag sich aus dem klassisch-romantischen Repertoire speist. Die Lausitzer machten keine schlechte Figur.
Ganz nahe lagen sie schließlich am böhmischen Tonfall, den Antonín Dvorák in seine sechste Sinfonie legte. Prächtig ausmusizierte Rahmensätze, ein Adagio tief empfundener Dialoge zwischen Holzbläsern und Streichern, dazu ein den Furiant tanzendes Scherzo beglückten die Zuhörer.

Roman Baltag ist bei dieser Konzertstaffel für den erkrankten Görlitzer Generalmusikdirektor Sanguineti eingesprungen und löste seine Aufgabe mit Bravour. Der 1989 in Moldawien geborene Dirigent, der zurzeit in Dresden studiert, wirkte ausgezeichnet vorbereitet und leitete so einen wahrlich runden Konzertabend.

Karsten Blüthgen
Sächsische Zeitung
10.03.2014

KONZERT: »Psycho« - Jost Schmidtchen - Sächsische Zeitung

Das lebensbejahende Licht wies den Heimweg

Mit „Psycho“ erlebten die Lausitzhallenbesucher am Mittwoch ein philharmonisches Konzert der Extraklasse.


Mit ihrem 2. Philharmonischen Konzert unter der Stabführung von Kapellmeister Ulrich Kern setzte die Neue Lausitzer Philharmonie einen Glanzpunkt. Besonders der erste Teil vor der Pause trug dazu bei, mit der Suite aus der Filmmusik „Psycho“ von Bernard Herrmann und dem Konzert für Saxophon und Streicher op. 14 von Lars-Erik Larsson zwei vergessene Meisterstücke zu präsentieren.

Die Filmmusik des Mitte der 1950er Jahre in Hollywood gedrehten Horrorfilms versteht am besten, wer den Film kennt. Bei der Konzerteinführung zeigte sich, dass das in Hoyerswerda etliche sind, was selbst den Kapellmeister überraschte. Bernard Herrmann wollte mit dieser Filmmusik vom üblichen Hollywoodklischee abweichen. Das erforderte auch die Konzeption von „Psycho“: Nichts wurde explizit gezeigt, sondern es spielte sich alles nur in der Fantasie des Zuschauers ab. Auch die „Duschszene“, die als die berühmteste Szene der Filmgeschichte gilt. Der dort verübte Mord ist nicht zu sehen, nur das herabstoßende Messer im Schattenspiel. Die Ängste des Filmpublikums verursacht die Musik, vom Duschgeräusch bis zum perfekten Horror. Die Lausitzhallenbesucher waren gebannt von diesem Musikstück.

Ein Wagestück für den Solisten

Jahrzehnte vergessen war das Konzert für Saxophon und Streicher op. 14. Der südschwedische Komponist Lars-Erik Larsson komponierte es 1938. Da der Solopart sehr anspruchsvoll ist, hat sich nach Sigurd Raschér kein Saxophonist mehr an das Stück herangetraut. Das Stück ist volkstümlich, aber harmonisch und träumerisch „gewürzt“. Als Solist konnte die Neue Lausitzer Philharmonie den Altsaxophonisten Elliot Daniel Riley verpflichten. Er spielt auch im „Raschér-Saxophon-Quartett“, einem der besten Saxophonquartetts der Welt.

Der zweite Teil des Konzertes war Robert Schumann gewidmet. Mit der Komposition seiner Sinfonie Nr. 2 C-Dur op. 61 begann er 1844. In gesundheitlich schweren Zeiten, Schumann erlitt nach einer Russlandreise einen psychisch-physischen Zusammenbruch, beginnt die Entstehung des Werkes. Die ersten drei Sätze widerspiegeln des Komponisten gesundheitliche Verfassung. Von den vier Sinfonien, die er komponierte, ist die zweite seine autobiografisch am meisten geprägte. Sie führt aus dem Dunkel in die Helligkeit, von schwermütiger Melancholie im ersten Satz zu vorsichtigen Inseln der Ruhe im zweiten Satz. Im dritten Satz, der als der melancholischste gilt, kommt die Hoffnung zutage und im vierten Satz zeigt sich das durchbrechende lebensbejahende Licht. Dazu Ulrich Kern: „Dieses Licht wird Ihnen nach dem Konzert den Heimweg weisen“.

Für die Musiker, den Solisten und den Dirigenten gab es nach dem außerordentlichen Konzert lang anhaltenden Beifall.

Jost Schmidtchen
Sächsische Zeitung
24.10.2013

KONZERT: »Psycho« - Jens Daniel Schubert - Sächsische Zeitung

Ziemlich gruselig

Die Lausitzer Philharmonie bietet im neuen Konzert eine enorme Breite an Klangfarben und Gänsehauteffekten

Die Konzertwoche in der Lausitz begann am Donnerstag in Zittau und zwar ziemlich gruselig. Das lag aber ausschließlich am Programm. „Psycho“ ist der Titel des 2. Philharmonischen Konzertes den Neuen Lausitzer Philharmonie. Es beginnt gleich mit der Musik zum Hitchcock-Klassiker, dessen schrille, messerscharfe Streicherdissonanzen jeder kennt. Bernard Herrmann ist der Komponist dieser Filmmusik. Und so wie der Schwarz-Weiß-Film von Reduktion lebt, von der Fantasie des Zuschauers, beschränkt sich die Komposition auf reines Streichorchester, das dennoch eine enorme Breite an Klangfarben und Gänsehauteffekten vermittelt. Zwanzig Jahre vor dem Kino-Thriller, Ausgang der 1930er, komponierte Hermanns Zeitgenosse, der schwedische Komponist Lars-Erik Larsson, sein Konzert für Saxofon und Streicher op.. Diese Musik pendelt zwischen Moderne und Neoromantik, hat weite, sehr harmonische und sich geradezu hymnisch verbreiternde Melodien. Das eigentliche Faszinosum ist das Soloinstrument, das Klänge und Effekte ermöglicht, die den Hörer, gleich ob Fan oder Skeptiker, in ihren Bann ziehen. Larsson erarbeitete sein Werk gemeinsam mit Sigurd Raschèr, einem der herausragenden Virtuosen dieses Instruments. Das Konzert präsentiert Elliot Daniel Riley als Solisten, der seit 2001 zum legendären Raschèr Saxophone Quartet gehört. Dieses wurde von Sigurd Raschèr in den 30er Jahren gegründet, 2000 war es Gast des Lausitzer Musiksommers und spielte mit der Neuen Lausitzer Philharmonie in Bautzen und Zittau.
Riley ließ mit hoher Meisterschaft, virtuosem Können und einem begeisternden Klangspektrum sein Instrument sprechen, die Streicher der Neuen Lausitzer Philharmonie begleiteten unter Leitung von Ulrich Kern feinfühlig, gewannen aber durchaus auch strahlende Eigenständigkeit.
Einen dritten Programmpunkt bildete die abschließende 2. Sinfonie von Robert Schumann. Ulrich Kern dirigierte das Werk auswendig, sicher, souverän und mit faszinierender Ausstrahlung. So konnte er nicht nur seine Musiker mitreißen und zu einer großartigen Leistung motivieren, sondern auch das Publikum begeistern, so dass es bereits nach dem ersten Satz spontane Bravo-Rufe gab. Diesen schwungvollen ersten Satz zu überbieten, wenigstens die Spannung zuhalten, schien fast eine unlösbare Aufgabe. Doch die Musiker unter dem immer weiter aufblühenden Dirigenten bewältigten sie bewundernswert. Im dritten, zu Herzen gehenden langsamen Satz mit einem wunderschönen Oboen-Solo legte sich das stürmische Temperament, ohne dass die Interpretation an Intensität verloren hätte. Allegro molto vivace ging es ins Finale und zu einem begeisterten Applaus.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
19.10.2013

KONZERT: »Bilder einer Ausstellung« – Jens Daniel Schubert – Sächsische Zeitung

Andrea Sanguineti, neuer Lausitzer Generalmusikdirektor, präsentiert farbenreiche „Bilder einer Ausstellung“

Im 1. Philharmonischen Konzert präsentiert sich die Neue Lausitzer Philharmonie erstmals mit ihrem neuen Generalmusikdirektor. Am Donnerstag war das Deutsch-Sorbische Volkstheater in Bautzen fast vollständig besetzt. Die Bautzner kamen, um den Italiener Andrea Sanguineti willkommen zu heißen und zu hören, wie er die „Bilder einer Ausstellung“ interpretiert. Das Konzert begann mit Hindemiths „Sinfonischen Metamorphosen“. Die Werkauswahl erwies sich als sehr geschickt, basiert diese Komposition doch auf Themen von Weber, ist also in ihrer Struktur und den musikalischen Mitteln „Moderne light“. Vieles entspricht klassischen Hörgewohnheiten, aber immer wieder klingen gut verpackt auch moderne Elemente durch. Außerdem bieten die vielschichtigen Farben und dynamischen Entwicklungen dem Orchester die Möglichkeit, sich von den unterschiedlichsten Seiten zu präsentieren. Der neue Dirigent mit seiner fast jungenhaften, sympathisch-natürlichen Ausstrahlung hatte das Werk genau gearbeitet, führte die Musiker sicher und gab den unterschiedlichen Charakteren Raum zur Entfaltung.
Im Solostück des Abends nahm sich Sanguineti bescheiden zurück, dirigierte ohne Stab gefühlvoll begleitend. Thomas Hille, ein erst 23-jähriger Kontrabassist aus Bayern, fesselte mit der virtuosen Beherrschung seines Instruments das Publikum. Bereits im regulären Stück, einem Kontrabasskonzert des Barockkomponisten Johann Matthias Sperger, entlockte er seinem Instrument unglaubliche Klänge. Wie er allerdings in der Zugabe mit den unterschiedlichsten Strich- und Zupftechniken, Flageolettönen, Doppelgriffen, raschen Lagenwechseln und beseeltem Vibrato seinen Bass wütend brummen und zärtlich wispern ließ, war schlichtweg frappierend.
Nach der Pause stand dann das titelgebende Stück auf dem Programm, Mussorgskis Konzertklassiker in der farbenschillernden, illustrativen Instrumentierung von Maurice Ravel. Die Neue Lausitzer Philharmonie musizierte das bekannte Werk mit großer Ernsthaftigkeit und folgte ihrem Chef zu einer differenzierten Ausleuchtung der Klangfarben. Der neue „General“ hat offensichtlich bereits ein gutes Gespür für seine Musiker entwickelt. Er lässt sich auf die Musik ein, verzichtet auf große Gestik und theatralische Emphase, weiß aber wohl Akzente zu setzen und Stimmungen zu bauen. Das Publikum in Bautzen war begeistert und applaudierte lang anhaltend.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
14.09.2013
GMD Andrea Sanguineti
Foto: Nikolai Schmidt
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