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Spielzeit 2015/­16

MUSIKTHEATER

MUSIKTHEATER: »Into the Woods« - Boris Michael Gruhl - DNN

Ab in den Wald
Stephen Sondheims Musical „Into the Woods“ wird zur Premiere in Görlitz gefeiert


Märchen im Musical sind nicht neu. Märchenmusicals auf der Leinwand à la Hollywood im Disneystil kennt man inzwischen zur Genüge. Auch Stephen Sondheims Musical „Into the Woods“ von 1987 gibt es als Film in Starbesetzung. In diesem Sinne sind es natürlich keine „Stars“, die jetzt in der Görlitzer Inszenierung dieses hintersinnigen Märchenabends von Sebastian Ritschel unter der musikalischen Leitung von Ulrich Kern das Publikum unterhalten, verblüffen, irritieren, überraschen und vor allem zutiefst berühren, denn dieses Märchen geht nur bedingt gut aus.

Unbeschadet kommt keiner aus diesem Märchenland heraus, manche auch gar nicht, die Dramaturgie der Märchen fordert Opfer, Besiegte, Erniedrigte und Beleidigte. Nur wird zumeist nicht mehr darüber gesprochen, wenn der goldene Schuh passt, der Hans im Glück ist, die Königin ein Kind bekommt und auch der Fluch einer Hexe oder bösen Fee von begrenzter Macht ist, weil putzmuntere Zwerge eben auch noch da sind.

Im Musical geht es zunächst auch richtig märchenhaft zu. Als Handlungsträger fungiert ein von Sondheim und James Lapine, von dem das Buch zum Musical stammt, erfundenes kinderloses Bäckerpaar, hinreißend gespielt, gesungen und manchmal auch getanzt von Antje Kahn und Michael Berner, bei dem der Bäcker abzahlt, was sein Vater einst verbockt hat, und als Sohn schwer an der Last des Vaters, der zwar gestorben, aber alles andere als tot ist, zu tragen hat. Herzliche Grüße von Dr. Freud aus dem Märchenwald der wuchernden Komplexe.

Eine Hexe weiß Rat. Ab in den Wald, in den Märchenwald, rät sie ihnen, nicht ganz uneigennützig, denn wenn sie die Milch von der Kuh trinkt, die den goldenen Schuh, die rote Kappe und das goldene Haar gefressen hat, wird sie wieder jung und die Bäckersfrau schwanger. Und schon sind sie alle im Wald ihrer Wünsche und Begierden, des einen Glück ist des anderen Unglück, den einen werden die Augen geöffnet, anderen hacken sie die Zaubervögel aus, als wäre es nicht schon genug, dass sie dem Aschenputtel halfen, die Erbsen zu zählen.

So endet Teil eins dieses Märchenzaubers mit einem Moment des so relativen wie vergänglichen Glückes und am ahnt, dass es am Ende nicht so gut ausgehen wird, wie man es möchte.

Und in der Tat, im zweiten Teil, bei ironisch erhobenen Zeigefinger der Autoren, gemischt mit moralisierenden Weisheiten, als wär’s ein Wort zum Sonntag, kurz vor dem folgenden Mord und Totschlag im Krimi, müssen alle wieder zurück in den Wald.

Sie müssen ihre Reisen antreten zu sich selbst, zu ihren Geistern der Vergangenheit stehen und auch dazu, dass sie nicht immer wirklich selbst ihres Glückes Schmied waren, dass es andere mitunter sogar das Leben kostete.

Aber immerhin, der Bäcker ist Vater, auch wenn die Mutter dieses kleinen, schreienden Glücks in Windeln beim Kampf gegen eine Riesin ums Leben kam. Da ist sie dann, wie im Märchen, wie im Musical, wie im Theater eben, die Vision des Augenblicks. Die mit dem Schrecken Davongekommenen halten das Kind für Momente im Arm, Glück soll man teilen, Verantwortung auch, Amen.

In Görlitz geht kein Vorhang zu, und auch die Frage ist nicht offen, ob es das wunschlose Glück denn wirklich geben könne, vor allem ist klar, gleich heißt es wieder für alle „Ab in den Wald!“.

Sebastian Ritschel als Regisseur, der auch für die Ausstattung und Licht verantwortlich ist, hat seine Märchenfiguren so originell wie witzig gekleidet und stellt sie dann in einen gnadenlosen, großen Holzverschlag. Da öffnen sich Türen oder Fenster, mal fährt sogar eine Treppe heraus, um an Rapunzels goldenen Zopf zu gelangen, die mehr oder weniger märchenhaften Menschen betreten den Raum mitunter so unbemerkt, wie sie ihn verlassen.

Der Wald ist ein Vision. Eine grandiose Videoinstallation von Steffen Cieplik, die zunächst so schön wie später auch bedrohlich sein kann und aus der Riesenperspektive beim Zuschauer Schwindelgefühle verursacht. Mag sein, dass Ritschel und Cieplik sich anregen ließen von einer Fotostrecke von Anselm Kiefer, die im Programmheft von Ronny Scholz abgebildet ist, bei der man ahnen kann, wie der Wald in die Zivilisation wächst und sich in ihm dennoch Fenster öffnen, die den Blick freigeben könnten auf noch nie betretene Landschaften.

Bei aller Fantasie, bei allem Übermut der so märchenhaften wie witzigen Figuren: Der Regisseur achtet stets auf die Genauigkeit der Konstellationen bei seiner an der Rhythmik der Musik und der Individualität der Figuren orientierten, choreografisch grundierten Inszenierung, die immer wieder zu beeindruckenden Bildkompositionen in musikalischen Korrespondenzen, insbesondere bei den Ensembleszenen, führt.
Mit Ulrich Kern am Pult des Orchesters, Mitglieder der Neuen Lausitzer Philharmonie mit großem Schlagwerkapparat und elektronischer Soundverzauberung, gibt der Klang das Fundament für die Bild- und Figurenkonstellationen auf der Bühne. Sondheims Musik ist eher sparsam zu nennen, keine Hits zum Mitsingen, mitunter wird man an den kommunikativen Stil des Parlandos erinnert. Manches, wie der mehrfach wiederkehrende Aufruf „Ab in den Wald“ , bleibt im Ohr, anderes fliegt dahin, um dann in modulierter Form figurengerecht wieder aufgenommen zu werden.

Es galt, 30 Rollen, eingeschlossen die herrliche Kindergruppe der sieben Zwerge, zu besetzen, nur wenige, aber stimmige Doppelbesetzungen des Görlitzer Ensembles mit tollen Gästen, die man nicht als Stars ankündigen musste. Unmöglich alle zu nennen, sie hätten es verdient, so soll Manuel Stoff als Hans mit seiner Kuh „Milky-White“, in deren Haut Benjamin Bley steckt, genannt sein. Mirjam Miesterfeld ist das Rotkäppchen im Wolfspelz, Anna Preckeler ist Aschenputtel mit angeborenem Reinigungshobby, bei dem goldene Schuhe nur stören, Ji Su Park überzeugt als Wolf und untreuer Prinz, wenn der Schuh passt. Thembi Nkosi, ebenfalls Prinz, kann die wunderbar singende Cristina Piccardi als Rapunzel nicht wirklich glücklich machen, was weniger an ihm oder an den gemeinsamen Zwillingen liegt als viel mehr an dem Dauerclinch mit ihrer Hexenmutter, als die sich grandios Yvonne Reich immer wieder in den Mittelpunkt singt und spielt.

Boris Michael Gruhl
Dresdner Neueste Nachrichten
18.06.2016
Foto: Marlies Kross

MUSIKTHEATER: »Into the Woods« - Marcel Pochanke - Sächsische Zeitung

Und noch ein Wunsch

Mit dem Musical „Into the Woods“ gelingt dem Görlitzer Theater eine vieldeutige Sicht auf die menschliche Sehnsucht.


Unentschieden. Der Kampf zwischen Gut und Böse wird in dieser Welt immer unentschieden ausgehen. In einem selbst, zwischen den Menschen. Sich auf dieses Unentschieden einzulassen, zeichnet ein zeitgemäßes Kunstwerk aus.

Märchen, wie wir sie kennen, fallen da hinter zurück. Sie kennen Gut und Böse, und sie enden notorisch gut. Vier davon herzunehmen, sie zu einer lehrhaften Geschichte zu verbinden und daraus ein Broadway-Musical zu machen – das kann doch nicht gutgehen. „Into the Woods – Ab in den Wald“ tut dies dennoch. Musik und Texte stammen aus der Feder von Stephen Sondheim, der auch den Text der „West Side Story“ beitrug. Den legendären Erfolg komponierte Leonard Bernstein, und auf dem Gebiet muss Sondheim seinem Freund und Rivalen den Vortritt lassen: Die Musik von „Into the Woods“ reicht an Bernstein nicht heran. Sie hat ein klares, eingängiges Thema, aber kann diesem anschließend kaum etwas so ausdrucksstarkes hinzufügen. Dennoch, oder gerade deswegen geht sie ins Ohr: Nach der Aufführung konnte man Besucher die Melodie summen hören. Und auch im eigenen Kopf will sich das Thema „Ab in den Wald“ nicht auflösen. Rhythmisch, schnörkellos. Das kann man von der Geschichte nicht sagen. Und das ist ihre Stärke – gerade in der Görlitzer Fassung von Sebastian Ritschel, der mit der Inszenierung seinen Abschied vom Gerhart-Hauptmann-Theater nimmt.

Die Raffinesse liegt in der Schutzlosigkeit, die Ritschel seinen Figuren, aber auch dem Publikum zumutet. In guten wie in schlechten Zeiten. So bekommt das Märchenhafte elementare Wucht. Die Bühne bleibt beinahe durchgehend frei, sieht man vom Nebel ab, der oft mythenbildend wabern darf. Drei Wände werden großflächig mit Videos von Steffen Cieplik bespielt, dort rauscht vorzugsweise der Wald. Da wollen wir hin, denn auch wenn er unheimlich und unzugänglich ist, verheißt er mehr als gute Luft: Hier werden unsere Wünsche wahr.

Stellvertretend wollen Rotkäppchen die hungernde Großmutter beschenken, der arme Hans die eigentlich unverkäufliche Kuh teuer an den Mann bringen und das schmutzige Aschenputtel sucht Zutritt zum Fest bei Hofe. Rapunzels Turm steht dann auch nicht mehr weit weg. Sie alle haben sehr private Sehnsüchte. Und Gegenstände, die eine Bäckersfamilie braucht, um einen bösen Bann zu lösen. Der eher künstliche als kunstvolle Kniff führt die Figuren zusammen, und die Vielheit der Handlungsstränge und Akteure jagt die Inszenierung im ersten Akt vor der Pause merklich vor sich her, sodass Mirjam Miesterfeld als frivoles Rotkäppchen oder Yvonne Reich als narzisstische Hexe gelegentlich außer Puste kommen. Im Graben sitzen Ton und Einsatz, Ulrich Kern am Pult hat die Neue Lausitzer Philharmonie in schmaler Besetzung fest im Griff. Das ist wichtig für die klanglich herausgearbeiteten Pointen, die auf den Punkt funktionieren. Dazu kann die Görlitzer Bühne mit Ji Su Park und Thembi Nkosi zwei Mimen aufbieten, die nicht nur sängerisch, sondern auch schauspielerisch auf ganzer Linie überzeugen. Das Spiel damit, dass sie äußerlich nicht aus der mitteleuropäischen Märchenwelt kommen, bildet immer noch einen gewollten oder ungewollten Doppelboden und macht die Geschichte in ihren Deutungsmöglichkeiten nicht ärmer. Ihr großes Duett, als sie sich in ihrem Liebesschmerz zu überbieten versuchen, lohnt allein den Besuch. Das gilt auch für Anna Preckeler, deren Aschenputtel am inneren Feuer fast zerspringen möchte. Sie hat bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Anna Kendrick, die in der Disneyverfilmung aus dem Jahr 2014 in die Cinderella-Rolle schlüpfte.

Aber Görlitz kann hier mehr als Disney. „Into the Woods“ am Hauptmann-Theater ist reifer in dem, was der Film sein will: Vermenschlichung der Märchenwelt, in der sich stets die nächste Ebene auftut, Schmerz sich ins Glück wendet und umgekehrt. Der Wald bleibt unberechenbar. Das macht das Jenseitige der „Zivilisation“ aus, dieser Wald: Du weißt nicht, was warum geschieht. Es kann dich erwischen. Du hast es nicht im Griff. Das ist immerfort auch Nachdenken über Fremdsein.

So geht es im zweiten Akt zu, um den das Theater ein großes Geheimnis machte. Bei der öffentlichen Hauptprobe war für die Besucher an dieser Stelle Schluss. Es werden, das sei verraten, nicht alle Figuren schaffen. Und es sind nicht die nur Guten, schon gar nicht die Besten, die übrig bleiben, als eine Riesin umgeht – doch immer hin haben sie, die überlebten, schließlich dazugelernt, sind den Worten nach beinahe weise geworden. Das kluge Denken (beziehungsweise Singen) hält aber nur so lang vor, bis sie sich wieder regt, die drängende Sehnsucht. Ganz am Ende, als die Szene sich zu etwas wie einem Happy End verbindet, so glücklich es angesichts des erlebten Schmerzes und der Verluste eben geht, regt sich trotzig Aschenputtels Zeigefinger: „Ich möcht ...“ Und alles wird anders werden, als gedacht, das bleibt die einzige Gewissheit.

Die Premiere am Sonnabend und jeder einzelne Darsteller wurden zurecht mit donnerndem Applaus bedacht, „Into the Woods“, das nur sechsmal aufgeführt wird, ist ein Höhepunkt im Görlitzer Theaterjahr und ein denkwürdiger Schlusspunkt der Ära von Regisseur Sebastian Ritschel.

Marcel Pochanke
Sächsische Zeitung
13.06.2016
Foto: Marlies Kross

MUSIKTHEATER: »Into the Woods« - Thilo Körting - www.schraeglesen.de

Märchentreffen im Wald

Wenn Stephen Sondheim ein Stück macht, kann es nur schraeg werden. Wenn dann noch ein großer Wald und lauter Märchenfiguren dazukommen, dann entsteht das Märchen-Mash-Up-Musical „Into the Woods“. Im Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theater haben auch wir uns durch das Dickicht geschlagen.
Wenn Stephen Sondheim ein Stück macht, kann es nur schraeg werden. Wenn dann noch ein großer Wald und lauter Märchenfiguren dazukommen, dann entsteht das Märchen-Mash-Up-Musical „Into the Woods“. Im Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theater haben auch wir uns durch das Dickicht geschlagen.
Ich komme an – und weiß ja eigentlich schon, was mich erwartet. Denn inzwischen gehört Stephen Sondheims „Into the Woods“ zu den Musical-Klassikern, ebenso wie Sondheim selbst. Denn Sondheim hat in der Musical-Szene neue Maßstäbe gesetzt, als er angefangen hat, sowohl die Musik als auch die Songtexte zu schreiben. Außerdem hat er sich Themen und Szenarien ausgesucht, bei denen nicht jeder denken würde, dass die auf die Musical-Bühne gehören. Für „Into the Woods“ hat er sich verschiedene Märchen genommen und sie zusammengemixt, auch mit Bezug auf psychologische Ausdeutungen. Während alle versuchen ihre Ziele zu erreichen, wird klar, was hinter den Figuren steckt und – im Sinne des Psychologen Bruno Bettelheim – hinter den Märchen. Das war immerhin gut genug für eine Verfilmung, natürlich von Walt Disney.

Ich verrate – schon einmal die Handlung, damit auch jeder mitkommt. Im ersten Akt sind die einzelnen Märchen noch klar zu erkennen. Da haben wir Jack und die Bohnenranke, Aschenputtel, Rapunzel und Rotkäppchen und (das ist neu:) ein Bäckerehepaar. Um sich ihre Wünsche zu erfüllen gehen sie alle in den Wald (eben „into the woods“), dabei laufen sie sich alle über den Weg und schaffen es bis zum Happy End. Aber wir wissen inzwischen, dass das Happy End nur ein Zwischenstopp ist. Im Zweiten Akt kommt die Frau des Riesen, den Jack umgebracht hat und tötet in kürzester Zeit ein Drittel der Figuren, was sie nicht davon abhält später nochmal Ratschläge zu geben und im Publikum für Verwirrung sorgen. Die Helden des ersten Teils, nur noch mäßig glücklich tun sich zusammen und retten ihre Welt auf brutale Weise. Am Schluss ziehen sie alle in eine WG beim verwitweten Bäcker ein.

Ich sehe – eigentlich gar nichts auf der Görlitzer Bühne des Gerhart-Hauptmann-Theaters Görlitz-Zittau. Regisseur Sebastian Ritschel hat sich für eine leeren Bühnenraum entschieden, vermutlich auch deswegen, weil bei der großen Besetzung wohl kaum noch Platz für irgendwelche Requisiten gewesen wäre. Begrenzt wird der Spielraum dafür von drei großen Wänden mit vielen Fenstern und Türen, für einfallsreiche Auf- und Abtritte. Mehr Farbe bekommt die Bühne durch mehrere Videoeinblendungen, mit denen schnelle Ortswechsel möglich sind – obwohl es meistens Aufnahmen aus örtlichen Wäldern sind. Die Kostüme sind den Märchen entsprechend schlicht und mit etwas Moderne vermengt: Die Prinzen tragen goldbestickte Mäntel, Rotkäppchens Mäntelchen ist aus rotem Lackfabrikat und der Bäcker hat einen unauffälligen Dreiteiler an.

Ich höre – Musik, klar. Sie klingt sehr eindeutig nach Stephen Sondheim mit seinen treibenden Rhythmen. Die musikalischen Motive kehren immer wieder und schaffen so wunderbare Spiegelungen. So starten eigentlich beide Akte ziemlich ähnlich mit dem Aufbruch in den Wald. So werden die Figuren auch wunderbar gebrochen, weil sie sie selbstverständlich nach ihrem Happy End nicht für immer glücklich sind. (…)

Ich beobachte – eine Inszenierung, die stark an den Broadway angelehnt ist. Das sagt jedoch mehr über das Stück, als über den Regisseur. Denn James Lapine und Stephen Sondheim haben ihr Musical sehr dicht gestaltet: Da gibt es synchrone Szenen und schnelle Spielortwechsel. Sebastian Ritschel hat das gut abgefangen und sehr solide mit dem Ensemble einstudiert. Die Auftritte sind klar durchchoreographiert und verzichten auf unnötige Spielereien. Die klaren Wege und Gesten der Figuren verraten so sehr viel über ihren Charakter.

Ich fühle – mich gut unterhalten, so wie offensichtlich alle Zuschauer, es wäre auch sehr schwach, wenn das nicht gelungen wäre. Denn dieses Stück ist einfach witzig, weil es die klassischen Märchenfiguren großartig bricht und dabei auch ihre Tiefen auslotet. Da hat der Wolf eine animalische Anziehungskraft, Aschenputtel hat nicht einfach nur Glück, sondern taktiert schon sehr geschickt. (…)

Ich denke – gar nicht so viel, was vielleicht sogar störend wäre. Denn in erster Linie geht es um den Spaß und es gibt ja auch keine großen Überraschungen in der Inszenierung. Dennoch hat Ritschel noch eine eigene Note hineingebracht, indem er das Leitmotiv „Ab in den Wald“ besonders in den Mittelpunkt gestellt hat. Der Wald – ein undurchdringlicher Ort voller Mysterien und Sehnsüchte – ist in Görlitz nicht nur ein Ort in dem Märchen halt spielen. Gerade die Videoprojektionen von Steffen Cieplik verdeutlichen die Faszination des Waldes und das Programmheft stellt die Bedeutung noch einmal ganz klar heraus: Der Wald ist nicht nur Spielort, sondern Ermöglicher der Märchen. Daneben bleibt dann außerdem die Aussage des Stückes: dass Märchen ebenso wichtig, wie zu hinterfragen sind.(…)

Thilo Körting
www.schraeglesen.de
13.06.2016

MUSIKTHEATER: »Into the Woods« - Roland H. Dippel - nmz-online

Waldrausch und trügerisches Glück – Sondheims „Into the Woods“ in Görlitz

Nicht ganz so heftig war der Premierenapplaus im Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz. Dennoch scheint das Publikum mit vielen jungen Gesichtern und internationalen Gästen am Beginn der unterschlesischen Sommersaison sehr beglückt über die Märchencollage Stephen Sondheims und seines Texters James Lapine. „Into the Woods“ aus den Jahre 1987 ist längst ein Klassiker und bildet mit den vielen dekorativen Grimm-Adaptionen im Alle-Generationen-Theater der letzten Jahre bereits eine Nische für sich. Eine mit vielen Erfolgsaussichten und einigen Tücken.

Durch Rob Marshalls Film mit Meryl Streeps Hexe und Johnny Depp als Wolf wird es seit zwei Jahren für „Into the Woods“ auf der Bühne noch etwas schwieriger. Geplant hatten Sondheim und Lapine ein Musical mit überschaubaren Wirkungen. Dafür besetzte Sebastian Ritschel in Görlitz überwiegend aus dem Musiktheater-Ensemble des Hauses und mit Gästen. In künstlerischer Gesamtverantwortung für Regie, Ausstattung und Licht frisierte er die Ästhetik deutlich in Richtung Gegenwart auf. Jetzt trägt Rotkäppchen knallrotes Latex und die Prinzen Shirts mit Bizeps-Ansichten unter den Gardeuniformen. Dass Grimms Märchen immer funktionieren, wenn Grundzüge der Ikonographie à la Ludwig Richter oder Walt Disney erkennbar bleiben, bestätigt Ritschel genauso wie vor einigen Monaten Mario Schröders „Märchen der Gebrüder Grimm“ für das Leipziger Ballett. Da wird es immer spannend, ob Regie und Ensemble hinter einer bunt-gläsernen Kollektion die gar nicht heile Märchenwelt freilegen wie zum Beispiel Robert Wilson aus Erich Kästners „Peter Pan“ am Berliner Ensemble.

Bekanntermaßen macht Sondheim dazu ein klares Angebot: Im ersten Teil des fast durchkomponierten Musicals meistern die Figuren Kinderwunsch-Probleme und realisieren ihre Sehnsüchte. Im zweiten Teil durchlaufen sie Partnerschafts- und Sinnkrisen, solidarisieren sich erst in allerletzter Sekunde angesichts der Bedrohung durch die von ihnen geschädigte Riesin. (…)

Dabei hat die passend schmal besetzte Neue Lausitzer Philharmonie die besten Voraussetzungen zu den wie bei Tom Waits schnarrenden und scharrenden Sounds, ganz ohne hier eher störende stilistische Vorkenntnisse. Streicherrutscher und das Knarzen der Drums geben vor: Rhythmus vor Melos! Das sitzt durch die lässig-prägnante Leitung Ulrich Kerns – und wie.

Später dann, wenn es an die Rettung aus den selbst gebauten Problemen geht, wird das nur glatt, nicht spiegelglatt. Bis dahin passen Raum- und Spielwirkung immer (zu) gut zusammen. Die Sehnsüchte der Paare und paarungsfreudigen Singles bauen sich in einem hohen Raum begrenzten Raum auf, wo Scheuklappen und Engstirnigkeit so lang sind wie Hans‘ Riesenbohnen und Rapunzels monströser Haarzopf. Der Wald besteht aus Projektionen von dickstämmigen Baum-Mathusalemen, Mauertürmen und Laubwäldern wie in Unterschlesien. Das ist eine technisch generierte zweite Natur für die romantische Ferne. Die Märchenfiguren, unsere Zeitgenossen, treten auf der Stelle, kommen längst nicht so voran wie bei Grimm.

Homogene Qualität des Ensembles
Generell ist die über weite Partien homogene Qualität des Ensembles sehr erfreulich. Angefangen von der Bäckerin, deren Aufruf zur „Der-Zweck-heiligt-die-Mittel“-Ethik Antje Kahn zur stimmschönen Verführung aufbaut. Endlich wird hier nicht das postfeministische Rotkäppchen (Mirjam Miesterfeldt) die Abräumerin, sondern das klar fokussierende Aschenputtel, das Ehrgeiz und der Freude am Putzen gleichermaßen überzeigend Ausdruck gibt. Anna Preckeler spielt ein Mädchen mit Chuzpe und klaren Vorstellungen.

In Zielstrebigkeit hin zu Hauptpartnerinnen und Nebenschauplätzen sind die Männer da polierte Mannsbilder mit wenig Hirn hinter der Birne. War es vielleicht gar mainstreamaffine Absicht, dass die windigen Prinzen zu den bunten ethnischen Gruppen gehören? Ji-Su Parks böser Wolf mit vokal und visuell gewinnender Ganovenerotik ist für Rotkäppchen ein Fest, bei den öligen Sprüchen von Aschenputtels Prinz schraubt Park dann zurück – synchron mit Thembi Nkosi, der Schwärmen und Schmollen auf das Männersachen-Tablett bringt.

(…)

Roland H. Dippel
nmz-online
13.06.2016

MUSIKTHEATER: »L’elisir d’amore – Der Liebestrank« — Boris Michael Gruhl — DNN 05.04.2016

Schiffbruch in seichten Gewässern

Kreuzfahrt mit Hindernissen zu Donizettis Oper „L’elisir d’amore“ in Görlitz


In Görlitz wird „L’elisir d’amore“ von Gaetano Donizetti aufgeführt.

Noch bevor das kurze Vorspiel des Orchesters beginnt, hat es schon einen Schiffbrüchigen samt kleinen Erinnerungsstücken, ein Traumschiff in der Flasche, eine Muschel, einen roten Damenschuh und ein Barbie-Püppchen in Görlitz an die Rampe gespült.
Dann öffnet sich der Vorhang und man könnte denken, jetzt beginnt das Spiel, wie es im Textbuch steht. Geputzte Landarbeiterinnen und Landarbeiter zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts, wahrscheinlich im französischen Teil des Bakenlandes, machen Mittagspause und lauschen der Geschichte von Tristan und Isolde und dem verhängnisvollen Liebestrank, die ihnen ihre reiche Pächterin Adina vorträgt. Einer lauscht besonders aufmerksam. Das ist der mittellose Nemorino. Für ihn wäre so ein Zaubertrank die einzige Chance, bei der geliebten aber unerreichbar scheinenden Chefin Gehör zu finden.
Weit gefehlt. Wenn der zunächst noch mit grünem Tuch verhüllte massive Bühnenaufbau sichtbar wird, ist das Geheimnis gelüftet, hier steigt gerade eine Verkleidungsparty auf einem schlichten Kreuzfahrtschiff.
Nemorino ist einfacher Arbeiter an Bord, die angebetete Adina ist Schiffsoffizierin, der Sergeant Belcore, dem sie zum Schein die Ehe in Aussicht stellt, ist der Security-Chef, und aus dem Quacksalber Dulcamara, der hier Glückspillen hochprozentig aufmischt und geschäftstüchtig für Nemorino auch zum Liebestrankverkäufer wird, ist ein billiger Entertainer in Begleitung leicht bekleideter Animiermädchen geworden.
(…) Der Dirigent Andrea Sanguineti versteht es nach verhaltenem Beginn dann doch, die pikanten Allegro-Rhythmen herauszuarbeiten. Er weiß auch um das nötige Maß an Sentimentalität, lyrischer Schmelz des Klanges besiegt die Tücken der trockenen Akustik des Theaters. (…) Die Sopranistin Cristina Piccardi hat nicht nur mitunter ganz im Sinne ihrer Rolle als Adina im Spiel die Nase oben, auch stimmlich steht ihre Leistung ganz weit obenan.
Das ist die Leistung des Abends, klar und sicher in allen Lagen, harmonisch im Verlauf der Gesangslinien gesetzte helle Höhen, ganz selbstverständlich klingende Verzierungen. Mag sein, Momente von lyrischer Grundierung könnten nicht schaden, aber mit diesem Gesang sind die Maßstäbe gesetzt.
Thembi Nkosi als Nemorino kann mit einer sehr angenehm klingenden Tenorstimme aufwarten. (…)
Der Bariton Ji-Su Park als Belcore gelangt nach anfänglichen Unsicherheiten zu stärkerer stimmlicher Präsenz, an solcher aber mangelt es mitunter schon Federico Sacchi für die buffoneske Basspartie des Dulcamara.
Musikalisch gelungen hingegen sind die Leistungen des Chores in der Einstudierung von Albert Seidl.

Am Ende herzlicher Applaus des Premierenpublikums, vornehmlich im Takt der Einheit. (…)

Boris Michael Gruhl
Dresdner Neueste Nachrichten
05.04.2016
Foto: Marlies Kross

MUSIKTHEATER: »L’elisir d’amore – Der Liebestrank« — Jens Daniel Schubert — Sächsische Zeitung

»Die Schönheit der Frau ist der beste Liebestrank. Dieser Erkenntnis kann sich auch Dulcamara nicht entziehen. Der lebt eigentlich davon, allerlei Quacksalberei, Schönheitswässerchen und Wundermittel zu vertreiben. Und wenn einer den Liebestrank wünscht, der Isolde einst unwiderstehlich an Tristan band, verkauft er diesem auch den. Nemorino ist so eine treu-herzig-ehrliche Haut, der einfach genug gestrickt ist, den vollmundigen Versprechungen ernsthaft zu glauben. Er ist eine Hauptfigur in Donizettis Oper »Der Liebestrank« (L’elisir d’amore), seine Arien, interpretiert von den Startenören der Welt, sind Glanznummern des Belcanto. (…)

Nemorino braucht den Liebestrank um Adina zu gewinnen. Seine attraktive Chefin, genießt es, umworben und begehrt zu sein, macht ihn glauben, dass er sonst keine reale Chance bei ihr habe.Kurioserweise wirkt der Trank, den er um den Preis seiner Freiheit von Dulcamara gekauft hat. In der Sicherheit, Adina werde ihm wegen des Trankes verfallen, lässt er sie links liegen und die ums gewohnte Umworbensein geprellte Adina wird sich ihrer Gefühle zu Nemorino bewusst. (…)

Thembi Nkosi hat einen schön klingenden und sicheren Tenor, mit der er die Partie sicher singt und auch spielerisch sehr sympathisch gestaltet. Ji-Su Park gibt den Widerpart Belcore als Strahlemann und Aufschneider mit Abstürzen, die nicht nur den cool gedrehten Revolver betreffen. (…)

Cristina Piccardi ist (…) schlank und reizend anzusehen, muss aber neben viel Bein auch Stimme, Ausdruckskraft und lockere Koloraturen zeigen. Sie macht das eine wie das andere und ist damit der Höhe-und Glanzpunkt des Abends.

Das Görlitzer Publikum zeigte sich von der Premiere begeistert, applaudierte lang und begeistert (…)«

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
4.04.2016
Foto: Marlies Kross

MUSIKALISCHES SCHAUSPIEL: »Papageno in der U-Bahn« — Andreas Herrmann — Sächsische Zeitung

Oper von unten

Frieder Venus inszeniert die deutsche Erstaufführung von Tibor Zaláns „Papageno in der U-Bahn“ als flotten Dreier im Apollo Görlitz.


Bombenalarm, mittags in der Oper. Auch die U-Bahn-Station darunter er lebt nur noch Durchfahrten (tiefstimmigster Bahnsteigdurchsager: Bassist Stefan Bley). Hier flüchtet sich ein bunter Vogel im federschweren Ganzkörperkostüm, eine Art Papageienkopf unterm Arm – die Station ist menschenleer, die Dauer der Probenpause und seiner Garderobensperrung ungewiss.

Der Mensch im Kostüm heißt Daniel Klein, er hat den Papageno aus Mozarts „Zauberflöte“ bereits in 108 Aufführungen in drei verschiedenen Inszenierungen gegeben und soeben den schlimmsten Vormittag seiner 13-jährigen Solistenkarriere am Musiktheater einer beliebigen Metropole erlebt. Er – in Form vom Görlitzer Publikumsliebling Hans-Peter Struppe – ward erst von der ihm unholden Weiblichkeit in fünffacher Ausführung gequält, dann vom Intendanten rausgeschmissen. Und nun trifft er auf die junge Punkerin Lola, die in der Station wohnt, dank reger Beobachtungsgabe die „Oper von unten“ ganz genau kennt, und ihn nun mit jugendlicher Vulgärsprache im wahren Leben willkommen heißt. Gespielt wird Lola von der Zittauer Schauspielerin Renate Schneider. Auf deren Lederjacke steht „Punk is not dead“, auf den Arschbacken der kurzen Hosen: „Fuck off“. Er will nie wieder singen, sie ist amüsiert. Und wenn er ihr nicht sein Schicksal erzählt, so der Deal, schildert sie ihm ihre jüngste Sexorgie mit drei Priestern. So berichtet er leibhaftig aus dem Innenleben des Intrigantenstadls: von der morgendlichen Qual mit der Korrepetitorin, der frustierten Frau des Generalmusikdirektors, die ihm klar macht, dass er nicht singen kann. Von der plappernden Ankleiderin, die er einmalig vernaschte, die ihm nun sein zu enges Kostüm nachbessert und nachher aufihn warten will. Von der scharfen Dramaturgin mit Riesenbrille, die mit jedem, der sich nicht ans andere Ufer rettet, ins Bett will und Mozarts Arien aufmodern gedrillt hat. Und von der blutjungen Statistin, die im Kostüm der Königin der Nacht auf ihn wartet, um ihn mit dem Ansinnen zu bezirzen, mit ihr auf der Hochzeit ihrer Schwester ein Duett zu singen. Das alles ist lustig, aber weitestgehend trivial und durchsetzt mit angepassten Arien Papagenos aus dem Original, dazu Ausflügen gen Figaros Hochzeit oder Don Giovanni. Richtig spannend und emotional wird es dann bei den nachempfundenen Begegnungen mit der schizophrenen Regisseuse, die aus dem dunklen Off des Regiepultes mit sich selbst redet und Klein nun dafür straft, dass sein Vater sie einst als Professor quälte. Ihn will sie als Papageno echt hängen sehen.

Danach wartet der Intendant Sascha Schneeberger (Renate Schneider im Anzug mit Zopf), der sich als aalglatter 40-jähriger Eventmanager, neben der Krankheit seines Dackels auch der Gesundschrumpfung der Oper widmet, aber weder Werke noch Rollen seines Spielplans kennt. Er kegelt den Bariton für einen halb so teuren Absolventen kühl heraus. Wie üblich: nicht gekündigt, nur nicht verlängert – und musikalisch passend garniert mit dem dramatischen Höhepunkt „Lache Bajazzo“ von Ruggiero Leoncavallo – dann der Alarm.

Zittaus Schauspielchefin gebar die Idee einer deutschen Erstaufführung von „Papageno in der U-Bahn“ und übersetzte das ungarische Original ihres Landmanns Tibor Zalán gemeinsam mit ihrer Dramaturgin Kerstin Slawek. Diese gelingt nun per Kooperation in achtzig kurzweiligen Minuten – vor allem deshalb, weil der aus Zittau stammende Regisseur Frieder Venus das Spiel nie ins Lächerliche oder Abstruse treibt, so dass das Publikum die emotionale Wendung ins Dramatische mitträgt und zum Ende sogar einen kurzen Anflug von Happy End mit herzlichem Beifall belohnt.

Die Mozart-Mixtur wird souverän von Olga Dribas im Mozart-Look am Flügel begleitet. Hans-Peter Struppe zeigt sich wie gewohnt als ausgewiesener Komödiant, Renate Schneider mimt neben dem rotzigen Punkgirl als Klammer auch alle anderen Rollen mit herrlicher Gestik und in großer Dynamik. Sie, doppelter und auch amtierender Zuschauerliebling unter Zittaus Schauspieldamen, singt als Lola respektive Papagena gekonnt mit und öffnet so dem gefallenen Ex-Star eine neue Opern-Unterwelt. Kleine Ironie des aktuellen Theaterlebens: Dank Besetzung muss Renate Schneider als Intendant den Sänger entlassen, aber Struppe sitzt nach fast 24 erfolgreichen Görlitzer Jahren fest im Sattel. Nur sie selbst muss im Sommer nach sieben Jahren Zittau wegen Nichtverlängerung verlassen. So wird die Inszenierung, die am 4. März ihre Zittauer Premiere feiert, in beiden Städten Liebhaber finden und vielleicht den Weg in den breiten Kanon selbstironischer Theaterstücke rücken.

Andreas Herrmann
Sächsische Zeitung
08.02.2016
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL und MUSIKTHEATHER: »Der obdachlose Mond« & »Papageno in der U-Bahn« - DNN

Mondfahrt ohne Obdach und U-Bahn
Zwei neue deutsche Stücke auf den Brettern von Zittau und Görlitz


Fünf Jahre ist die neue, die zweite Ehe der beiden Theaterhäuser an der Neiße just alt, nachdem die erste, von 1963 bis 1988 noch mit dem Zusatz Theaterkombinat versehen, immerhin bis zur Goldenen Hochzeit hielt. Jetzt hatte der geneigte Besucher die Gelegenheit, Zustand und Ausrichtung vergleichend zu beobachten – mit zwei Kammerstücken: Einerseits die Uraufführung von Christoph Klimkes Farce „Der obdachlose Mond“ hinter Zittaus eisernem Vorhang, andererseits die deutsche Erstaufführung von Tilman Zaláns „Papageno in der U-Bahn“ als musikalische Komödie am Görlitzer Apollo.

Beide Häuser pflegen eine recht fleißige und innovative Uraufführungspraxis, in der sich der jüngste Streich gut einfügt. Dieser heißt „Der obdachlose Mond“ und wurde – aus alter Freundschaft zu Barbara und Jürgen Esser, die es eigentlich in Zittau inszenieren sollten – von Christoph Klimke geschrieben. Der gebürtige Oberhausener des Jahrgangs 1959, seit 32 Jahren in Berlin wohnend, ist seit 1995 Barlach-Preisträger und heute bekannt als Leibtexter von Johann Kresnik, für den er drei Opern- und zwölf Tanzlibretti, darunter den Ring der Nibelungen, schuf.

Zittaus Schauspielintendatin Dorotty Szalma war einverstanden – nur das Thema Asyl und eine Kammerbesetzung mit drei Schauspielern fürs Spiel hinterm Vorhang waren Bedingung. Diese treffen sich täglich ab mittags in Helgas Spätshop. Die blond-abgeklärte Witwe, von Rückkehrin Katinka Maché als Gast in bemerkenswerter Eindringlichkeit gespielt, will mit 35 noch einiges im Leben, kann Flüchtlingen nichts abgewinnen, zumal sie nur vorm Laden rumlungern und selten einkaufen. Die anderen beiden sind hingegen den Neuen nahezu gewogen und verfallen eher in Hilfs- als in Panikmodus, als rasch noch 31 weitere hinzukommen sollen, ohne dass irgendwo dafür genügend Platz wäre.

Während der Endzwanziger Lars Ole (David Thomas Pawlak) im Laden aus hilft, dabei Konserven oder Eier abstaubt und den sexuellen Avancen Helgas nichts abgewinnen kann, wogegen er, zart wie hilflos, den einzigen öffentlich bekannten Fremden bewundert, jenen sportlichen Afrikaner Teju vom Eine-Welt-Laden gegenüber. Der burschikose Karl (Tilo Werner) verkörpert den nur bedingt lustigen Mann vom Ordnungsamt, der mal kurz was mit Helga hatte, aber nun mit einer Polin verheiratet ist und sich schon latent auf die Rente und das Leben in deren Heimat freut.

Kaum akute Asylfragen, sondern grundsätzliche Klischees und simple Konstruktionen als Thema

Dass nun der (oder das) Fremde nie persönlich auftauchen, wird schnell klar – es werden jenseits der Unterkunft kaum akute Asylfragen, sondern grundsätzliche Klischees und simple Konstruktionen unter Provinzkleinbürgern thematisiert, wobei rein textlich offen bleibt, ob diese im Schwarzwald, dem Harz oder in der Oberlausitz heimisch sind. Das ist gut so, sonst täte man dem Großteil der Zittauer wie Görlitzer Theaterwiedergänger ob deren Grenzerfahrung und der durchaus beachtlichen Zivilcourage in beiden Städten unrecht. Denn sonst strotzt das Stück vor trivialen Spruchblasen, geklaubt aus prägnanten Boulevardmagazinen. Keiner der Meinungen auf der Bühne mündet in einen tiefgründigen Dialog oder vielleicht gar in eine ernsthafte Diskussion mit Argumenten im Austausch, es bleibt meist bei bekennenden, oft abgebrochenen Monologen.

Nun darf man Klimke, der sein Stück als Farce anbietet, durchaus unterstellen, dass er die Erwartungen geschickt unter laufen will, so dass der gemeine Besucher ob der Umkehrung erst recht ins Grübeln und in Diskussion geraten soll – und damit wohl hier an der echten Grenze, wo die Spaltung der Stadtgesellschaft nicht so scharf geriet, eher Erfolg als Dresden mit Volker Löschs „Graf Öderland“ oder Tilman Köhlers „Maß für Maß“ haben könnte.

Darauf deutet auch die personelle Charakterisierung hin: Ausgerechnet Tante Emma, die hier Helga heißt, schürt als einsame Frau die Angst vorm Fremden. Die anderen beiden üben sich als Männermehrheit in steter Relativierung mittels eigener Erfahrung im Gutmenschsein und -tun, der Hoffnungslose durch die Anziehungskraft der Exotik, der Ordnungshüter als Aufgeklärtester zum Wir schaffen-das-Apologeten.

Nichtsdestotrotz – so die Pointe nach zwei harschen Wendungen kurz vor Schluss, garniert mit Albtraum und Totenmaskentanz, bei der auch Helgas wie Tejus Laden zerstört werden – landen sie alle auf dem Mond und schauen von dort auf die Erde, die als Badeball von der Decke baumelt. Helgas Mondverwünschung wurde ihnen selbst zum Verhängnis, so schwafeln sie von dort enttäuscht weiter, bis dem Stern-Rekorder die Batterien ausgehen...

Regie führt, weil die Essers dann doch nicht konnten, Hannes Hametner. Er bringt Lokalkolorit per Ausstattung in den Laden, von Bautzner Senf über Rotkäppchen und Nudossi, natürlich auch Grabower Mohrenköpfe (die selbstverständlich nicht so heißen dürfen) bis Freiberger Pils. Dafür baute ihm Hausausstatterin Beate Voigt einen wunderbaren Laden auf runder Schrägfläche mit lustig grüner Öko-Ecke und einer geschickten Lichtspiegelung am Rundvorhang, wo auch sonstige Schattenspiele gut wirken.

Doch irgendwie Spielfluss oder gar Anmut wie Rührung vermag sich nicht einzustellen, auch die eingebaute Idee, die ersten acht Artikel der UNO-Menschrechtserklärung von 1948 als Übertext vor jedem Szenenwechsel einzublenden, verpufft, weil sich danach partout keine Assoziationen zum Geschehen einstellen wollen. In Erinnerung bleibt eine Art Diashow beeindruckender Fotos des Flüchtlingsstromes aus dem vergangenen Sommer, gezeigt zu Artikel 5 der Resolution: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Dennoch bleiben Zweifel, ob es diese Version zum Nachspiel schafft – und damit der von Dorotty Szalma gewünschten Zitierung von Zittau als Uraufführungsort kommen wird.

Hoffnungsvoller ist da sicher Klimkes nächste Uraufführung. Denn sein Libretti für die Oper „Pym“ von Johannes Kalitzke, die schon am 18. Februar in Regie von Johann Kresnik in Heidelberg Premiere feiert, befasst sich mit dem Roman „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“ von Edgar Allan Poe, um ihn mit Texten von Walter Benjamin und Fernando Pessoa zu ergänzen.

Das gilt auch für „Papageno in der U-Bahn“, eine musikalische Kammerkomödie, die an der Görlitzer Kammerbühne Apollo Premiere und damit deutsche Erstaufführung feierte. Hier lieferte Szalma die Idee samt Übersetzung aus dem ungarischen Original von Tibor Zalán, die Umsetzung übernahmen der aus Zittau stammende Frieder Venus – als Schauspieler Dresdnern (und DNN-Lesern) sicher als Mephisto in der Urfaust-Inszenierung von Rudold Donath von 1975 bekannt – und Ausstatterin Änn, die in Berlin ein „Atelier für wildes Denken betreibt“.

In der sonst menschenleeren U-Bahn Station unter der Oper flüchtet ein bunter Vogel namens Daniel Klein (Hans-Peter Struppe), der als Papageno in Mozarts „Zauberflöte“ bereits 108 Aufführungen in drei Inszenierungen erlebte. Nun stört er – dank Bombenalarm in der Oper – die junge Punkerin Lola (Renate Schneider), die in der Station haust. Die beiden, eigentlich kein Traumpaar aus Oper- wie Unter(grundbahn)welt, kommen ins Gespräch – und flugs wird daraus, weil auf dem Bahnsteig noch ein Flügel mit Pianistin Olga Dribas weilt, eine kurze Reise durch den verqueren Vormittag des Baritons, seit 13 Jahren hier Solist, die kurz vorm Alarm mit Entlassung durch den neuen, jung-ekligen Sparintendanten endet.

In einem achtzigminütigen Ritt über acht Begegnungen und neun Lieder, meist Mozart-Arien, wird die Geschichte erzählt, wobei Schauspielerin Renate Schneider, doppelter Zittauer Publikumsliebling, alle Gegenspieler, meist -innen, mimt und dabei alle Register der Verwandlung und Komik zieht, während Struppe sowieso mit allen komödiantischen Wassern gewaschen ist.

Venus und Änn bescherten Görlitz vor knapp vier Jahren schon den Kreisler Abend „Du sollst nicht lieben“ – natürlich mit Struppe in der Hauptrolle. Als Erinnerung daran flochten sie nun dessen „Musikkritiker“ ein – als Berufsoption für den Opernstar. Sie schaffen hier einen witzigen, runden Abend, der zum Schluss auch emotional funktioniert und dank Theaterehe im Namen Hauptmanns im März auch gen Zittau wandert, während der Mond vorerst nur dort weilt.

Andreas Herrmann
Dresdener Neueste Nachrichten
13./­14. Febraur 2016

MUSIKTHEATER »Orpheus in der Unterwelt« — Jens Daniel Schubert — Sächsische Zeitung

Spaß statt Satire

Görlitz schickt Orpheus in die Unterwelt, und das Publikum hat viel zu lachen.


Orpheus und Eurydike sind ein bewegendes Liebespaar der klassischen Antike. Jacques Offenbach zeigt ein sich überdrüssiges Ehepaar in einer satten Gesellschaft. Bissige Satire, die das Publikum seit 150 Jahren unterhält. Im Görlitzer Theater hat te „Orpheus in der Unterwelt“ am Wochen ende Premiere. Mit Witz und Klamauk, bunter Ausstattung und schmissiger Musik macht die Operetteninszenierung den trüben Alltag vergessen.

Eurydike, im langen Abendkleid, ist von Orpheus, dem Geigenprofessor mit schwarzem Frack und langer Künstlermähne, zutiefst enttäuscht. Ihr fehlt einfach alles! Weder Zuwendung noch Erotik, nicht einmal den erhofften Aufstieg hat diese Verbindung gebracht. Doch die Rettung ist nah. Als schöner Nachbar entführt sie Pluto, der Höllenfürst, in die Unterwelt. Doch auch der Rotbefrackte mit der schönen Tenorstimme hält nicht, was er verspricht. In der Unterwelt erkaltet seine Glut. Eurydike richtet ihre ganze Hoffnung auf eine Fliege, die sie erotisch umsummt. Das ist Jupiter höchstpersönlich. Doch auch der Olymp ist wie Erde und Hölle, nur in Gold und Weiß. Genauso übersättigt blutleer. Der sagenhafte Gang aus der Hölle – Orpheus verliert Eurydike für immer, wenn er sich nach ihr umdreht – endet vorhersehbar. Schließlich war es nur die personifizierte „Öffentliche Meinung“, die ihn zum Ausflug zu Olymp und Hades nötigte. Doch, dass die schlussendliche Erhebung Eurydikes zur Bacchantin tatsächlich eine (Er)lösung ist, darf bei der Vorgeschichte ernsthaft bezweifelt werden.

Ernsthaftigkeit zu vermeiden ist die Grundintention der Görlitzer Inszenierung. Steffen Piontek hat sie mit großem Geschick, vielen amüsanten Einfällen und sicherem Gespür für wirkungsvolle Pointen auf die Bühne gebracht. Mike Hahne baute die prunkvolle Ausstattung. Bei gleichbleibendem Säulenbau lässt sie sich vom großbürgerlichen ins olympische und schließlich höllische Ambiente wandeln. Überzeichnete Götterkostüme im griechisch-römischen Stil mit goldenen Attributen sind spielerische Steilvorlagen. Piontek lässt keine Möglichkeiten für einen Spaß ungenutzt. Selbst die „Öffentliche Meinung“ ist bei ihm eine couragierte Ehefrau in Begleitung eines folgsamen Ehetrottels, ohne jedoch ernsthaft, siehe oben, die Ehe an sich zu hinterfragen.

Das Riesenensemble zeigt sich in bester Spiellaune. Dan Pelleg und Marko E. Weigert sorgen mit ihren Choreographien nicht nur für einen schmissigen Can-Can, sondern auch immer dann für Bewegung auf der Bühne, wenn es dem Spiel an Turbulenz mangelt. Ulrich Kern leitete den Abend musikalisch, steigerte sich bis zum Galopp in die Hölle und blieb diesem Schwung auch nach der Pause treu.

Michael Berner spielt den Orpheus irgendwo zwischen Rumpelstilzchen und Otto. Widerstandslos lässt er sich von der „Öffentlichen Meinung“ herumkommandieren. Die wird von Yvonne Reich und Torsten Imber verkörpert. Anfangs sehr präsent, könnte sie zum aktuellen Bezug des ganzen Stückes avancieren, wird aber irgendwann von der Regie vergessen.

Cristina Piccardi ist eine schöne, gegen Ende auch sängerisch auftrumpfende Eurydike, Thembi Nkosi ein Pluto-Sänger zum Dahinschmelzen. Stefan Bley gibt den Göttervater Jupiter als Papa Jupi, etwas verrückt, etwas vertrottelt, aber in allem liebenswert, selbst Gabriele Schwabe als Nudelholz schwingende Juno kann ihm nicht ernsthaft böse sein.

Das Premierenpublikum vermisste weder Ernsthaftigkeit noch gesellschaftspolitisch-satirische Anspielungen, fühlte sich gut unterhalten und applaudierte seinem Ensemble und mit großer Begeisterung den Gästen des Inszenierungsteams.

Jens Daniel Schubert
Sächsische Zeitung
23.11.2015
Foto: Marlies Kross

MUSIKTHEATER: »Der Freischütz« — Marcel Pochanke — Sächsische Zeitung

Zypressen im deutschen Wohnzimmer

Der Görlitzer Freischütz findet einen neuartigen Teufel. Auch sonst erhält er eine Frischekur, die ihm gut zu Gesicht steht.


Ein Pakt mit dem Teufel, der gut ausginge, ist aus der Weltgeschichte nicht überliefert. Allein die Ausgestaltung der satanischen Macht und ihrer Vasallen ließ der menschlichen Fantasie von jeher viel Spielraum. In Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ ist es ein umtriebiger Geist, der Samiel gerufen wird. Dieser Samiel ist allgegenwärtig, die schöne Agathe ahnt ihn, dunkle Streicherklänge künden ihn, nur bleibt er unsichtbar für alle Personen auf der Bühne – bis auf Kaspar. Der finstere Jägerbursche hat sich ihm verschrieben. Als Gegenleistung für die Vergünstigungen, die so ein Teufel anbieten kann, muss er, das kennt man, turnusmäßig Seelen abliefern. So will es das Libretto von 1821.

Für das Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz hat Jan-Richard Kehl den Freischütz neu inszeniert. Und den Samiel prompt von der Bühne verbannt. Das Böse, das Kaspar zu dessen Glück verhilft, sind im Görlitzer Freischütz Drogen. Ein Kapitel im Programmheft ist folgerichtig Crystal Meth gewidmet. Wo die Besetzungsliste die Stimme Samiels verlangt, steuert Kaspar (Björn E. Werner) selbst sie bei. Lehnt, zunehmend vom Zerfall gezeichnet an der Wand, ruft zitternd: „Samiel hilf!“ und schluckt das arglistige Zeug. Und auch Max, der andere, der „gute“ Jägerbursche, kann nach dem ersten Schuss der „Freikugel“ nicht mehr genug bekommen.

Für seine Inszenierung kassierte Jan-Richard Kehl bei der Premiere am Sonnabend einige Buhs, aber auch Bravos. Man konnte von ihm, einem Schüler des großen Regisseurs und Werkhinterfragers Peter Konwitschny, nicht erwarten, dass er die altdeutsche Sage traditionsgetreu auf die große Bühne stellt. Also setzt Kehl in Görlitz die Säge an den deutschen Wald. Das war der geheiligte Sehnsuchtsort, in dem der „Freischütz“ spielt, seine Ausmalung durch die Musik machte Carl Maria von Weber berühmt. Kehl zimmert gewissermaßen Bretter daraus und liefert sie als Mobiliar eines deutschen Wohnzimmers wieder auf der Bühne ab.

Dort nehmen die Darsteller auf dem Sofa Platz und das In-die-Ferne-Sehen, Ausdruck der Ursehnsucht des Romantischen, wörtlich: Sie sehen fern. Die Geschichte um die Liebe zweier Waldleute und finstere Mächte, die sich dazwischenschieben, rührt Kehl bei aller Deutungslust nicht an. Im dritten Akt nach der Pause nimmt er die Regieeingriffe zunehmend zurück, überlässt Musik und Sängern die Bühne, das Publikum zu überwältigen. Kehls Inszenierung ist weder belanglos, noch mutet sie dem Opernbesucher eine zugespitzte Überformung zu. Der „Freischütz“ funktioniert, das zeigt er, auch ohne den Teufel, wie die Überlieferung ihn kennt. Die Gestalt mit der Kapuze (Won Jang), die in Görlitz mysteriös über die Bühne schleicht, ist, wie wir am Ende erfahren, sein Gegenteil.

Während der Aufführung sind die besagten Sägearbeiten des Regisseurs nicht mehr zu hören. Es herrscht die Neue Lausitzer Philharmonie mit eher lieblichen Klängen. Der italienische Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti ersetzt hier und da Kiefern durch Zypressen, nimmt dem Freischütz seinen schwer-dunklen Habitus. Weber hatte eine Oper komponiert, die zwar die Androhung des Dunklen selbst in den leichten Momenten in sich trägt, aber auch die düsteren Stellen mit ironischen Tupfern versieht. Die beschwingten Klänge lässt Sanguineti mit erkennbarem Vergnügen aus dem Graben springen, selbst auf dem Pult mittanzend, sodass ihm beim berühmten böhmischen Walzer der Taktstock davonfliegt. Sanguineti weiß, was er auf dem Notenblatt vor sich hat: eine Oper, deren Lieder nach der Uraufführung zu Gassenhauern wurden. Von Heinrich Heine ist die Klage überliefert, dass er sich auf allen Straßen Berlins von den Melodien Webers verfolgt fühlte.

Michael Bedjai agiert als Max bei der Arie „Durch die Wälder“ noch zurückhaltend, gewinnt aber zunehmend an Präsenz und beeindruckender Stimmkraft. Jörn E. Werner als sein Gegenspieler wird mit viel Applaus bedacht, obwohl das Orchester bei seiner fiesen Arie „Schweig, schweig!“ mit so viel eigener, rasender Rachsucht unterwegs ist, dass es ihn zu überdecken droht. Ein Einzelfall am Premierenabend, an dem Philharmonie und Sänger aufmerksam zusammenwirkten. Patricia Bänsch als Agathe ist ganz Gefühl, singt warm und genau. Das Publikum dankt es ihr mit viel Applaus und Bravos. Noch mehr Zustimmung erhält Mirjam Miesterfeldt, die als Ännchen zeigt, dass sie für das Gerhart-Hauptmann-Theater nicht nur stimmlich ein Gewinn ist, sondern auch sehr gut schauspielert. Kokett ist sie den anderen meist einen Schritt voraus, und droht auch Max um den Finger zu wickeln. Herauszuheben sind der phänomenal-doppelbödige Opernchor sowie der Auftritt der Solo-Bratscherin Henriette Mittag, die mit ihrem Instrument zeigt, wie man mit dem frechen Ännchen umgehen muss.

Das sind Gründe, dem Publikum den Görlitzer „Freischütz“ sehr zu empfehlen. Und sei es, um herzhaft zu streiten, was das denn eigentlich sei: deutsche Romantik.

Marcel Pochanke
Sächsische Zeitung
12.10.2015
Das Ännchen (Mirjam Miesterfeldt) ist mit den "Freikugeln", die sich Max (Michael Bedjai) am Görlitzer Theater gibt, gar nicht einverstanden.

Foto: Marlies Kross

SCHAUSPIEL

SCHAUSPIEL: »Die Legendes des Priber« - Andreas Herrmann - DNN

Scheintoter Utopist unter Rothäuten

Julia Heinrichs inszeniert Axel Stöckers Uraufführung „Die Legende des Priber“ auf der Waldbühne Jonsdorf


Schon der vierte Uraufführungsstreich in Folge: Die Jonsdorfer Wald- wird wohl bald in Axel-Stöcker-Bühne umbenannt – quasi analog zum Bautzener Hillmannburghof. Denn der Autor und Regisseur textete zum vierten Mal hintereinander das Abenteuerspektakel fürs Dreiländereck im Auftrag vom Gerhart-Hauptmann-Theater. Offenbar gelang dabei die Trendwende von Klassikern zum originären Heimatstoff mit Erfolg, auch wenn die jüngste Premiere „Die Legende des Priber“ (Bühnenmusik von Levente Gulyás) erstaunlicherweise nicht ganz ausverkauft geriet, was sicher mehr am dramatischen Wolkenszenario über dem Zittauer Gebirge lag.

Nach den Oden an Räuber Karasek (2014) und Ritter Konrad (2015) gibt es nun mit dem aufmüpfigen Zittauer Oberamtsadvokaten Christian Gottlieb Priber als dritten Oberlausitzer Sommertheaterhelden. Dieser hat allerdings lebende Verehrer und fiel – wie jeder aufrichtige Sozialutopist – den Schergen des Machtapparats zum Opfer, die damals noch Königen statt Präsidenten dienten. Und er ist zudem – damit endlich wieder Rothäute über die Waldbühne springen – US-indianischer Ehrenbürger. Dabei schrieb er (in Wahrheit und Latein) seine Dissertation über die „Anwendung der Lehre des Römischen Rechts von der Unwissenheit des Rechts an deutschen Gerichtshöfen und was davon gerecht und billig ist“. 1735 floh er vor drohender Verfolgung ohne Frau und Kinder von Zittau über London in die Wildnis der Appalachen, um bei den Cherokee-Indianern Asyl zu finden und mit ihnen die autonome Republik „Priber’s Paradise“ zu gründen, in der kurz vollkommene Freiheit und Gleichheit herrschten. Er geriet darob natürlich zum Südstaatenfeind Nummer eins und starb 1745 artgerecht – also geheim und ohne Prozess – im Knast, während sein Opus mag num bis heute verschollen blieb.

So eignet sich die Geschichte vom Zittauer Flüchtling, der zuvor als Anwalt gern missbrauchte Frauen, die sich wehren, verteidigt und dabei auch mal körperlich ausflippt, als dankbarer Stoff für fiktive Ausdeutung, zumal die amerikanische PriberGesellschaft just jetzt dessen Jahr feiert und gemeinsam mit dem Zittauer Stadtmuseum und dem neuen „Priber’s Point“ eine ganzes Gedenkpaket anbietet.

Zurück in die Gegenwart und auf die Bühne in Rufweite der böhmischen Grenze, fast sechshundert Meter über dem Meeresspiegel: Mangels Frontex sticht Priber hier – souverän von David Thomas Pawlak gespielt – als Bootpeople lieber mit Segler statt Schlauchboot in die pazifische See, zettelt aber zuvor noch eine Kneipenschlägerei an, wobei der Wirt drauf- und fast die ganze Besatzung mit an Bord der Aussiedlerfregatte von James Oglethorpe alias Klaus Beyer geht, dort auch ein bisschen rummeutert, bis Piraten den Schulterschluss erfordern. Jener Chef ist als Engländer mit seltsamen Warmbademanieren (mit Schiffchen bis Entchen) nicht nur Kapitän, sondern auch Gouverneur des wilden Georgia, der neben Feuerwasser auch fleißige Europäer im Kampf gegen die diversen Indianer braucht.

Das ist von Bedeutung, denn dank des plötzlichen OP-Ausfalls vom zur kommenden Spielzeit gekündigten Publikumsliebling Stefan Sieh musste kurzfristig GHT-Geschäftsführer Caspar Sawade per Doppelrolle vorwärts einspringen. Neben dem Tod auf dem zerberstenden Kneipentisch spielt er noch – mit markanter Stimme, präsenter Gestalt und Lust am Spiel – den zweiten Deutschen im Bunde, der Priber nach dessen Rettung getreu dient: Als per Trick freigekaufter Schuldknecht Frank Daniel Pastorius darf er nun sowohl austeilen als auch einstecken – und wird vom bösen Colonel Fox, Marc Schützenhofer, zum Gaudi der Insider gebührend ausgepeitscht, worauf ihm der Theateraufsichtsrat (wohl auch aufgrund gestiegener Besucherzahlen trotz erhöhter Preise) seinen Vertrag sofort bis 2020 verlängerte.

Nach langem Hin und Her zwischen guten oder bösen Weiß- oder Rothäuten, bei denen die theoretischen Grundlinien der Paradiesgenese im Vagen bleiben, aber der Held in Form von Maria Weber als Christiana plus Martha Pohla als Häuptlingstochter Clogoittah die zwei attraktivsten Damen zur Frau hat, gönnt Autor Stöcker dem Priber sogar eine überraschend auflösende Pointe, die ihm der Gouverneur als Deal anbietet …

Die Züricher Regisseurin Julia Heinrichs macht bei ihrem Freiluft- wie Zittauer Debüt vieles richtig, achtet vor allem vor der Pause auf enormes Tempo, wobei die ironischen Kampfchoreografien von Axel Hambach wieder besonderen Charme verströmen und auch Pferde nicht fehlen. Ausstatterin Beate Voigt hatte diesmal einen schnell zusammenzubastelnden Zweimaster als Herausforderung zu meistern – frappierend, in welcher Geschwindigkeit auch alle anderen Umbauten bei laufendem Spielbetrieb gemeistert werden. Nur das Ende an der Zittauer Blumenuhr, wo Pribers Tochter Victoria (wieder: Maria Weber) wie anfangs versprochen dessen Buch als nachträgliches Geburtstagsgeschenk erhält, erschließt sich nicht jedem. Nur pfiffige Versteher werden nun zur Suche dort umgraben.

Für moderne Großstädter richtig ärgerlich und für die Zittauer Theatermacher ein klarer Wettbewerbsnachteil im umkämpften Freilichtmarkt (auch bei anderen Veranstaltungen) am südöstlichen Ende der Republik: Der zuständige Nahverkehrsverbund (in Form deren politischer Auftraggeber) schafft es seit Jahren nicht, für die Wochenendvorstellungen eine öffentliche Anbindung jeglicher Art von Jonsdorf zurück in die Welt – am besten natürlich per Schmalspurbahn – anzubieten. Auch so kann man in perfider Art langfristig an Kultursparen – und bis dahin Natur wie Klima belasten. Pfui!

Andreas Herrmann
Dresdener Neueste Nachrichten
02./­03.07.2016

SCHAUSPIEL: »Die Legendes des Priber« - Rainer Könen - Sächsische Zeitung

Und dann kam dieser Sachse…

Auf der ausverkauften Jonsdorfer Waldbühne begeisterte die Uraufführung „Die Legende des Priber“ das Publikum.


Ist dieser Mann eine Legende? Wird man zu einer, wenn man als romantisierender Sozialutopist einer indigenen Volksgruppe vermitteln will, dass das Erdendasein paradiesisch sein kann? Und: Wie kann ein Jurist aus dem Zittauer Gebirge eine Kolonialmacht wie das Britische Empire in seinen Grundfesten erschüttern?

Warum es den Anwalt Christian Gottlieb Priber im 18. Jahrhundert aus dem beschaulich-biederen Sachsen nach Amerika trieb, wo er einige Zeit bei den Cherokee-Indianern lebte, dazu möchte in diesem Sommer auch das Gerhart-Hauptmann-Theater Erhellendes beitragen. „Die Legende
des Priber“ lautet das Stück, das auf der Jonsdorfer Waldbühne uraufgeführt wurde. Hier wird auf unterhaltsame Weise das Leben eines Mannes beleuchtet, der als Frühaufklärer gilt. Der Freidenker, ausgestattet mit einem Jura-Diplom der Universität Erfurt, floh 1735 aus seiner Heimatstadt, weil er der Obrigkeit mit seinen utopischen Ideen mächtig ins Auge stach.

Schauspielintendantin Dorothea Szalma ist auf der Suche nach einem regionalen Thema für die Waldbühne auf eine weitgehend unbekannte Persönlichkeit gestoßen. Ein Sachse, der seine neue Heimat bei Indianern gefunden hat, sich in die Häuptlingstochter verliebt und seinen roten
Freunden Rechtsbeistand anbietet, auf dass diese nicht mehr von Briten übers Ohr gehauen werden. Priber, der 1697 in Zittau zur Welt kam, ist ein Mann, dessen Leben bis heute Fragen aufwirft. Biografische Freiräume, die es zu füllen gilt, wenn man seinem Wirken Eventcharakter geben möchte. Schauspieler David Thomas Pawlak gibt seinem Christian Gottlieb Priber, der die radikalen Strömungen der europäischen Aufklärungsphilosophie in die zivilisationsferne Prärie exportierte, dieses eifrige, missionarische Sendungsbewusstsein, das diesen Aufklärern oft so eigen ist. Sein Gegenpart ist der englische Colonel Fox, dargestellt von Marc Schützenhofer. Mit ihm gerät er in einer Londoner Hafenkneipe aneinander. Er wird zu seinem Erzfeind, der ihn bis nach Amerika verfolgt. Zusammen mit Martha Pohla als Häuptlingstochter Clogoittah und deren Vater Moytoy, dargestellt von Tilo Werner, bilden diese Figuren das Gerüst der Handlung, die von Beginn an zügig Fahrt aufnimmt. Von Zittau geht es nach London, wo Priber ein Schiff für die Überfahrt sucht. Die Fahrt über den Atlantik gerät selbstverständlich ebenfalls recht abenteuerlich. Piraten wollen das Schiff entern, da wird aus der Wald- kurzerhand eine Seebühne.

Regisseurin Julia Heinrichs hat ein Stück inszeniert, das alle Ingredienzen eines flotten Abenteuerspektakels enthält. Action, Pyrotechnik, Pferde, Stunts, farbenprächtige Kostüme und eine Menge Mitwirkende. Und immer mittendrin ist da dieses Buch, in dem der Zittauer Anwalt seine Ideen für eine gerechtere Gesellschaft sammelt. Die Inszenierung der reit- und kampfsporterfahrenen Rheinländerin Julia Heinrichs macht neugierig auf den Zittauer Prieber, der seinen Namen bei seiner Ankunft in der britischen Kolonie zu Priber anglisierte. Eine Neugier, die in diesem Sommer in Zittau und Umgebung sicher gestillt werden dürfte. Denn hier hat man den Priber-Sommer ausgerufen, kann man sich in den kommenden Wochen in Workshops, im Museum, in der Hillerschen Villa, in Ausstellungen und Lesungen einem Mann nähern, dessen Ideen für eine bessere Welt bis heute nicht eingelöst wurden: für eine Gesellschaft ohne Unterschiede, für eine, in der es keine Herrschaft und Landbesitz gibt. Da lässt der Sozialismus grüßen.

Das knapp zweistündige Stück enthält Szenen voll überbordender Komik. Als zwei Indianer über das Wesen des Krieges reflektieren, einer nicht mehr auf den Kriegspfad will, bekommt er von seinem Kollegen den Tipp, vorher eine Krankmeldung beim Häuptling einzureichen. Da gibt es Diskussionen über den Linksverkehr bei Sänftenträgern, zeigt sich der von Klaus Beyer in locker-witziger Form dargestellte englische Gouverneur von Georgia, James Oglethorpe, als Liebhaber von Quietschentchen. Das kommt beim Publikum an. Wie auch Pribers aufklärerische Ideen bei seinen neuen Freunden, den Cherokees, auf überaus fruchtbaren Boden fallen. Vor allem bei den indianischen Damen. Da werden die Geschlechterrollen neu definiert, wer wann fürs Essen zuständig ist, und wenn frau mit mann auch sonst nicht zufrieden ist, kann sie ihn entsorgen. Besonders originell sind die Kostüme der CIA, der Cherokee-Indianerinnen-Armee, die loszieht um Priber, der von den Engländern festgesetzt wurde, zu befreien. Strumpfhosenbewehrt erinnern die Damen in der Art, wie sie über die Waldbühne hüpfen, irgendwie an eine Schlumpfen-Kohorte.

Axel Stöcker hat ein Stück geschrieben, das aus Autorensicht eines ist, das die Kreativität mächtig ankurbelt. Denn fast alles, was der Zittauer während seiner Zeit in Amerika schrieb, ist verschollen. Seine legendäre Schrift „Kingdom Paradise“, in der er sein utopisches Paradies beschrieb, ging bei seiner Gefangennahme durch die Engländer ebenfalls verloren. Nur ein Totengedicht an seine Mutter ist noch enthalten.

Am Ende siegt dann natürlich wieder die allumfassende Liebe. Und was macht Pribers Ehefrau Christiane im heimischen Zittau? Auf einer überdimensionierten Uhr erfährt die von Maria Weber dargestellte Figur, was die Zeit geschlagen hat.

Es ist höchste Zeit. Denn am Schluss zucken Blitze über den Zittauer Himmel, öffnet der Himmel seine Schleusen, gibt es ein wahres Donnerwetter für diese mit viel Beifall bedachte Uraufführung.

Rainer Könen
Sächsische Zeitung
20.06.2016
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL: »Alois Nebel« - Andreas Herrmann - DNN

Langzeitdrama im Kursbuchtakt
Steffen Wolfram inszeniert die Uraufführung von „Alois Nebel“ am Zittauer Hauptmann-Theater


Mutiges Theaterprogramm im Dreiländereck: Nur einige Wochen nach Klimkes „Der obdachlose Mond“ ist mit „Alois Nebel“ die nächste Uraufführung hinterm Eisernen Vorhang am Start. Wieder harter Tobak, wieder geht es um Flucht und Vertreibung dank großer Politik, wobei im Fokus keine Helden, sondern niedere Schicksale, geprägt von purer – also guter wie böser – Menschlichkeit, stehen.

Diesmal führt die Story ins abgelegene Altvatergebirge in Nordmähren, genau zweihundert Kilometer östlich von Prag und hundertzehn Kilometer südlich von Wroclaw. Das einst schlesische, später polnische Grenzland ist ein ebenso von alteuropäischen Machtgeschichte gebeuteltes Gebiet wie die Lausitzer Neißeregion. Dort liegt Weißbach: Im Jahre 1888 fast sechs Jahrhunderte alt und bei jedem Krieg arg betroffen, bestehend aus rund 160 Häusern, in denen 800 Deutsche lebten. Für sie wurde ein Bahnhof gebaut – die Bahnlinie dazu wird noch heute Schlesischer Semmering genannt. Nach dem ersten Weltkrieg kam Weißbach zur neu gegründeten Tschechoslowakischen Republik und heißt seit 1921 amtlich Bilý Potok, woraufhin zehn Tschechen ansässig wurden. Heute wohnen dort deren 281 in abgeschiedener Ruhe auf 287 Meter Höhe über dem Meeresspiegel.

Überliefert sind zudem zwei Sehenswürdigkeiten und ein Dorfpromi: Bürgermeistersohn Rudolf Rittner, der als Schauspieler in Berlin passenderweise die Hauptrollen in Gerhart Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“ und „Florian Geyer“ gab und auch den Moritz Jäger in „Die Weber“ spielte“. Als Filmstar ist er aus Fritz Langs „Die Nibelungen“ und als Hans Sachse in „Der Meister von Nürnberg“ ein Begriff, wurde aber nie Großstädter, sondern blieb immer Weißbacher Hofbetreiber, der in Österreich-Ungarn aufwuchs, in der Tschechoslowakei alterte und im Reichsgau Sudetenland starb.

Altvater bleibt Altvater
Grund der Treue ist vermutlich das klare Gebirgswasser, aus dem köstliches „Altvater“ gebraut wird, ein Bier, viel besser als das Prager Staropramen, das Alois Nebel – in fünfter Generation Fahrdienstleister im Bahnhof von Bilý Potok, der in der zweiten Lebenshälfte keinen Schnaps mehr verträgt, immer wieder mundet: „Altvater bleibt Altvater“ wird so zum geflügelten Trinkspruch – denn der Bahnangestellte trinkt wie all seine Mitbürger gern, mangels Alternativen auch mit seinem unsympathischen Kollegen und Gegenspieler Wachek, der mit seinem Vater rare Konsumgüter in allen Systemen zollfrei über die Grenze schmuggelt. Dessen gewalttätiger Alter hat hingegen ein finsteres Geheimnis und fürchtet sich darob vor einem unsichtbaren Grenzgänger. Dieses verleiht einer eigentlich trivialen wie obskuren, aber liebevollen tschechischen Wendegeschichte im Herbst 1989 geschickt eine historische Tiefe, die ihm zur Relevanz verhilft.

„Alois Nebel“ sorgte als Comic-Trilogie im Geiste von Jaroslav Rudiš und Jaromír „99“ Švejdík in Böhmen wie Mähren für Furore und Reflexion. Man sagt passenderweise „Graphic Novel, die deutsche Ausgabe wurde in Dresden bei Voland & Quist verlegt. Vor fünf Jahren wurde „Alois Nebel“ dank der Produktion von Balance-Film – den legitimen Defa-Trickfilmstudio-Erben – per Rotoskopie zum abendfüllenden tschechischen Kinowerk in Regie von Tomáš Lunák, das sich 2012 in Malta den europäischen Filmpreis als bester Animationsfilm und daraufhin auch auf Deutsch einiges an Pulikum holte.

So blickten viele Prager wie Dresdner Augen gespannt auf die Zittauer Hinterbühne, wo der „Eisenbahnerblues aus dem Altvatergebirge” nun seine Uraufführung in Regie von Stefan Wolfram auf der Bühne erlebte – auch wenn der anfangs geplante Einbau der Kafka Band, in der beide Autoren musikalisch mitwirken, nicht klappte. Aber gerade Rudiš, der die Premiere wegen Beinbruchs versäumen musste, war oft vor Ort – sein Roman-„Grandhotel” liegt auf dem Jeschkin. Jener Hausberg vom „Pisspott Europas”, wie er Liberec nennt, ist stets in Sichtweite und dank Bahn und Auto weit näher als Bautzen und Görlitz.

Das Gleismovie mit eingebauten Familiendrama erschließt sich mählich: Nebel trifft einen stummen jungen Mann in der derben Klinik wieder, den alle für einen bösen Grenzgänger halten und dementsprechend behandeln, und muss, da Wachek ihm den Arbeitsplatz klaut, nach Prag. Dort erlebt er Weihnachten 89 in der Mitropa und trifft auf der Bahnhofstoilette sein spätes, aber herzliches Glück namens Kveta. Ganz zum Schluss – Comic wie Film bieten ein recht brutales Beilfinale – stehen sich Vater und Sohn sowie dessen Halbbruder und neue Liebste jeweils gegenüber, bieten Ansätze zur Versöhnung und Vertrauen in die Phantasie des Publikums …

Comic, Film und Stück als eigene Werke
Wolframs Konzept – durch die Vorlagen reichlich begrenzt – ist konsequent: Er verzichtet auf bahntechnische Spielereien und bietet nur wenig Nostalgiemomente für „Pufferknutscher”, dafür zeichnet er die Figuren viel aktiver, verzichtet aber auch nicht auf die Prager Bahnhofsszenen, inklusive Trink- und Sexspielchen. Erwartungsgemäß ist der Verzicht auf Farben, gut wirkt das Bühnenbild von Udo Herbster, der schräge Bahnen als Geleise auf die Bühne setzt, von denen eines unter dem eisernen Vorhang durch in den Zuschauerraum führt.

Der Erfolg liegt am subtilen, sinngerechten Spiel: Tilo Werner gestaltet die Hauptrolle als unbeholfener, einsamer Bahnwärter in originaler Optik, dessen Leben komplett durchs Kursbuch getaktet ist, wunderbar einfältig, lässt aber gelegentlich durchtriebenen Schalk durchscheinen – sicher seine bislang eindrücklichste Rolle in Zittau. Alle anderen haben – zum Teil genau gegenbesetzte – Rollentausche zu erledigen: So ist Stefan Sieh als Kneipier, Bahnchef und Mitropamusiker ebenso souverän wie Martha Pohla, die mit einfühlsamen Schwung Dorothee, Krankenschwester und das Prager Flittchen spielt. Ganz stark auch Patricia Hachtel, die als eiskalte Ärztin erst den Stummen zum Reden bringen will, sich dann aber als warmherzige Kveta im Nebel nicht irrt. Einzig der dynamische Klaus Beyer muss als Wachek und Olda zwei fiese Gauner spielen – wie gewohnt mit Gänsehautbravour.

Dazu kommen als Gäste der körperlich präsente Stumme, gespielt vom polnischen Filmidealheld Grzegorz Stosz. Noch schillernder die Biografie von Ludvík Kavín, der den alten Wachek gibt. Geboren 1943 in Brünn, also im Protektorat Böhmen und Mähren, erlebte er als Lehrer aktiv den Prager Frühling, gründete das erste und einzige postsurrealistische Theater in der CSSR, unterschrieb später die Charta 77, um just am 7.7.1977 samt Familie politisches Asyl in Wien zu finden und sofort eine Compagnie zu gründen.

Über eine Uraufführung ähnlicher Dichte und Klarheit samt stringent durchgewebter Stimmung muss man ein Weilchen nachdenken, an gleicher Stelle ist es wohl Bogdan Kocas „Die Zimtläden” nach Bruno Schulz, aber auch Wolframs eigener „Kafka” in Chemnitz war ähnlich gelungen. Zum sächsischen Theatertreffen vom 18. bis 22. Mai in Bautzen kommt das Zittauer Hauptmann-Theater allerdings mit Klimkes „Der obdachlose Mond”, der Alois wird einer der Höhepunkte beim hauseigenen trinationalen „3Länderspiel“, zu dem die benachtbarten Ensembles aus Liberec und Jelenia Gora vom 26. bis 29. Mai anreisen.

Andreas Herrmann
Dresdener Neueste Nachrichten
10. Mai 2016
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL: »Alois Nebel« - Oliver Reinhard - Sächsische Zeitung

Nazis in Nebelstreifen

Vom Comic übers Kino aufdie Bühne: In Zittau wurde das Eisenbahner-Historiendrama „Alois Nebel“ uraufgeführt.


Der kleine Ort Bily Potok steht so verloren im tschechischen Altvatergebirge herum wie Alois Nebel im Leben. Der Bahnhofsvorsteher ist einsam und bedrückt; ihn durchgeistern trübe Erinnerungen. An die letzten Tage der Nazis und die Deportation der Sudetendeutschen, an Zugunglücke und desertierte Sowjetbesatzungs-soldaten, durchsiebt von eigenen Kameraden. Aber Alois hat seine Fahrpläne. Immer wenn ihm alles zu wüst wird, liest er darin. Die Pläne geben ihm Halt. Weil sie das Einzige sind, das sich seit 1938, also seit 50 Jahren, so gut wie nicht verändert hat. Bis er nachts im Nebel den Pfiff einer Dampflok hört, einen Zug mit Wehrmachtssoldaten und Verwundeten sieht – und den Fehler begeht, das seinen Vorgesetzten zu melden.

Wie und warum das Leben des Bahners anno 1988 aus der Bahn gerät, daraus haben der tschechische Autor Jaroslav Rudis und sein Kumpel Jaromir Svejdik ein wunderbares Stück grafische Literatur geschaffen, einen Comic. Der gleichnamige Animationsfilm holte gar den europäischen Filmpreis. Vier Jahre danach erlebt die Geschichte im Zittauer Gerhart Hauptmann Theater am Freitag ihre Uraufführung als Bühnendrama. Rudis selbst hat mit Stefanie Witzlsperger Hand angelegt, wohl auch Dramaturg Gerhard Herfeld, die Inszenierung besorgte Stefan Wolfram. Lässt sich dieses hochliterarische Epos um einen im Strudel der deutsch-polnisch-böhmischen Geschichte, zwischen Gestern und Heute, Gut und Böse, Falsch und Richtig Treiben den mit seinen vielen Verästelungen zum schlüssigen Theaterabend verkürzen und verdichten? Möglich; die Zittauer Uraufführung kann das nicht beantworten.

Alle Shades of Grey
Dass „Alois Nebel“ gleichwohl ein im Wortsinn ansehnlicher Abend ist, liegt zum guten Teil an Ausstatter Udo Herbster. Sind die holzschnittartigen Zeichnungen des Comics konsequent in Schwarz-Weiß gehalten, schimmern Bühnen- und Kostümbild nun in allen Shades of Grey, vom Schnapskarton bis zur Herrensocke. Grau wie die Wahrheiten der Geschichte und der Gegenwart. Wie die Seelen der Protagonisten. Und wie der Nebel. Das gibt dem Ambiente eine reizvolle und prima zur Story passende expressionistische Note.

Aber nicht nur das Leben des Titelhelden gerät zur Erzählzeit 1988/­1989 aus dem Lot. Deshalb bespielen die sieben Akteure in 14 Rollen zumeist schräge Ebenen. Man ist dabei auch oft expressionistisch, wirft sich in Haltungen, knallt jede Tür und jede Luke mit lautem Rumms! Thilo Werners Alois Nebel: arg angebrochen, fahrige Bewegungen, fahrige Worte. Leichte Beute für Ausbeuter wie Wachek (Klaus Beyer). Der macht Schwarzgeschäfte mit den abziehenden Sowjets, hat es auf Alois‘ Job und Heim abgesehen und reißt sich auch alles unter den Nagel, als Alois wegen der Nazizug-Sache im Sanatorium sitzt. Dort soll er einen seltsamen Stummen aushorchen, „Grenzverletzer“ aus Polen, von dem sicher scheint: Er ist wegen damals gekommen, als der Vater von Wachek erst mit den Nazis paktiert, dann die Sudetendeutschen ausgepresst und vertrieben, dabei einen Mann erschossen und dessen Mädchen vergewaltigt hat – Alois’ geliebte Kinderfrau, die ihn oft im Traum besucht.

Doch der Stumme bleibt stumm. Alois wird 1989 entlassen, will sich am Prager Hauptbahnhof wegen Job und Haus beschweren, strandet dort, wird zum Penner, findet die Liebe zur Kioskbesitzerin Kveta, verliert sie wieder, scheinbar zumindest. Als er zurückkehrt nach Bily Potok, zu Wachek Junior und Senior, gerät die eh fragile Balance der Lügen und des Schweigens endgültig ins Kippen, beginnt der Nebel, sich zu lichten ... Aber nicht genug.

Ja, „Alois Nebel“ ist ein schwerer Brocken. Die Geschichte geht kühn bis an die Grenzen dessen, was sich mit den Mitteln des Comic, ja der Literatur überhaupt noch erzählen lässt. Die Handlungsstränge und -ebenen sind überaus komplex, die Verhältnisse der Figuren nicht minder, die der deutsch-tschechisch-polnischen Geschichte seit 1938 sowieso. Zwar liefert Stefan Wolframs Inszenierung manch kluge Idee, wie sich Rückblenden erzählen lassen, als Einsprechungen, als Schattenriss-Filmprojektionen. Aber sehr viel, zu viel vom Buch sollte rein, auch in die Dialoge der Bühnenfassung. Darunter etliches wunderbar Literarisches, das indes für die Kernhandlung eher nebensächlich ist, sie oft sogar vernebelt, gerade für Zuschauer, die Comic oder Film noch nicht kennen. Es ist, als stünde der Abend immer wieder mit einem Fuß auf der Bremse, wenn auch mit ABS.

Ein Fall für eine Entschlackung
Hinzu kommt: Alois Nebel ist kein Typ, der dem Leben passiert, eher umgekehrt. Eine Figur, die kaum handelt, die dahintreibt, gewissermaßen im Auge des Handlungssturms. Auf leicht gekräuselten Wellen, nicht auf den Wogen drumherum. Man sieht ihm beim Treiben zu, mit interessierter Anteilnahme, aber ohne innere Bewegung. Im Comic und im Film kein Problem; man ist genug gebannt vom Drumherum. Auf der Bühne aber, in unmittelbarer Konfrontation mit der Figur, ist das zu wenig. Wie wär‘s, wenn man Alois Nebel zur Entschlackungskur beim Spezialisten schickt? Er hätte eine zweite Chance verdient.

Oliver Reinhard
Sächsische Zeitung
02. Mai 2016
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL: »Alois Nebel« - Robert Lorenc - Serbske Nowiny

Der Vulkan in uns
Das Theater Görlitz-Zittau bringt „Alois Nebel“ in deutscher Uraufführung auf die Bühne


Man sollte zum Besuch von „Alois Nebel“ mit der Bahn nach Zittau anreisen. Noch verkehren hier von Görlitz herauf Züge. Dieser Zustand muss im autoverliebten Sachsen erfahrungsgemäß nicht von Dauer sein – also besser jede sich bietende Chance nutzen. Das Stück ist „Ein Eisenbahnerblues aus dem Altvatergebirge“, und die stiefmütterliche Behandlung dieses einst so stolzen Verkehrsmittels ist eine seiner Strophen. Der landschaftlich vielleicht schönste Streckenabschnitt der Oberlausitz ist aber auch aus einem anderen Grund die richtige Einstimmung. Denn hinter Hagenwerder geht es bis Hirschfelde auf die jenseitige Neißeseite. Beim Bau der Strecke 1875 konnte niemand ahnen, dass sie dadurch ab 1945 für einige Kilometer die Grenze nach Polen überqueren würde und der Ostritzer Bahnhof sich nun plötzlich im Ausland befindet. Das Jahr 1945 steht am Ende eines zivilisatorischen Bruchs in Europa. Die seit damals klaffenden Wunden heilen nur sehr langsam. Es ist das europäische Eisenbahnnetz, das aus der Zeit vor diesem Bruch noch herüberragt und uns die damals gewaltsam durchtrennten Linien und zerschnittenen Räume unseres Kontinentes vor Augen führt. „Alois Nebel“ ist eine historische Spurensuche in diesem Netz und zugleich eine Auseinandersetzung mit dem deutsch-tschechischen Anteil seiner Zertrennung und dem Schmerz, der auf sie bis heute folgt. Erzählt aus tschechischer Perspektive – ohne Selbstschonung und ohne bequem Täter-Opfer-Zuschreibungen einseitig entlang von Volkszugehörigkeiten zu verteilen. Denn so einfach waren die Dinge auch im Altvatergebirge in der Regel nicht.

„Alois Nebel“ verhandelt keine leichte Thematik. Es geht um verdrängte Schuld und die Traumata, die aus ihr erwachsen. Aber Rudišs von den Geistern der Geschichte heimgesuchter Bahnwärter steht auch in der Tradition von Hašeks Schwejk oder den „Pábitelé“ Hrabals. Alois liebt es also zu erzählen und dabei, immer mit dem Fokus auf seine geliebte Welt der Eisenbahn, Anekdoten „kleiner Leute“ mit der„großen Geschichte“ zu einem eng verwobenen Puzzle zu verknüpfen. In der Graphic Novel finden sich bei aller Schwere und Gewalt so immer wieder auch hellere, spielerisch-charmante und tief poetische Momente. Für den Film haben Rudiš und Jaromír 99 diesen Stoff stark gestrafft, Nebel deutlich schweigsamer gemacht und die Geschichte auf ihren Grundkonflikt hin zugespitzt. Er ist dadurch düsterer als das Buch. Die Zittauer Inszenierung von Stefan Wolfram (Regie) und Gerhard Herfeldt (Dramaturgie) verbindet nun diesen narrativen Ansatz des Films mit dem zugänglicheren, redseligen Alois Nebel des Comics. Viele schöne Geschichten halten so wieder Einzug in die noch immer sehr dramatische Handlung. Besonders zentral war den Autoren für ihre Adaption dabei der folgende geschichtsphilosophische Satz Nebels, der an diesem Abend mehrfach fällt: „Schlechtes schlummert in uns wie in einem Vulkan, und da Vulkane von Zeit zu Zeit ausbrechen müssen, sollten wir über das, was uns quält, auch sprechen, damit der Vulkan nicht so oft speien muss.“

Tilo Werner gibt seinen Nebel zunächst leise und suchend, als eine Figur, die erst durch das Erinnern und das Reden darüber im Sinn dieses Satzes an Festigkeit gewinnt. Zu Beginn fällt es ihr daher schwer, sich gegen die laute Dominanz der anderen Figuren, allen voran Klaus Beyer als sehr stark polternder Stationsarbeiter Wachek, zu behaupten. Dadurch entsteht aber auch eine Intimität zum quasi auf der Bühne platzierten Publikum, die bis zum zweiten Akt eine große Vertrautheit zu Nebel aufbauen hilft. Diese gipfelt in einem wunderschönen Moment, in dem er buchstäblich inmitten der Zuschauer sein rührendes Rendezvous mit Květa (Patricia Hachtel), der Toilettenfrau des Prager Hauptbahnhofs, erlebt. Einer von mehreren in Erinnerung bleibenden Höhepunkten dieser intensiven hundertminütigen, klugen aber auch fordernden Inszenierung, mit der das Theater Görlitz-Zittau der Oberlausitz eines der Theaterhighlights der Saison beschert. Ihre Figuren, ob sie nun Erlösung erfahren, die Liebe finden oder an ihrer Schuld zerbrechen, bleiben noch bei einem wenn man schon längst wieder im letzten Zug zurück nach Bautzen sitzt.

Robert Lorenc
Serbske Nowiny
11.05.2016

SCHAUSPIEL: »Alois Nebel« - Juliane Wünsche - Hungerherz.de

Kein Leben nach Fahrplan – Rezension zu Alois Nebel

Es liegt so einiges im Nebel im Altvatergebirge. Die Geschichte hat Wunden hinterlassen, die die Zeit nicht heilen kann. 1938. 1945. 1968. 1989. Bedeutende Jahreszahlen in der tschechischen Geschichte. Zahlen, die in dem Theaterstück Alois Nebel immer wieder auftauchen, eindringlich und unverrückbar. Zahlen, die der Fahrdienstleiter Alois Nebel versucht, mit anderen Zahlen aus dem Kopf zu bekommen – den Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge, die an dem kleinen Bahnhof Bílý Potok halten oder vorbeifahren. Es gelingt ihm nicht. Zu eng ist sein Schicksal mit der Gegend, der Bahnstation und der Geschichte verwoben. Doch im Gegensatz zu den Fahrplänen, die Nebel immer wieder laut vorliest und die den Zugverkehr reibungslos regeln, unterwirft sich das Leben weder Plänen noch dem Willen der Protagonisten.

Das Gerhardt-Hauptmann-Theater in Zittau bringt die Graphic Novel Alois Nebel auf die Bühne.
Alois Nebels Welt gerät aus den Fugen, als er nachts einen Zug mit Wehrmachtssoldaten und Verwundeten zu sehen meint und dies seinem Vorgesetzten meldet. Er wird in die Psychiatrie eingewiesen. Dort trifft er auf den „Stummen“, einen polnischen Grenzgänger, der verzweifelt nach Bílý Potok will. Nebel soll herausfinden was der Fremde will, doch der schweigt hartnäckig. Einzig ein Foto von Nebels Vater, dem alten Wachek und Nebels deutschstämmiger Kinderfrau Dorothee wecken sein Interesse. Unterdessen reißt sich der junge Wachek, der Schwarzmarktgeschäfte mit den Russen macht und auch sonst jede Gelegenheit zum Geldverdienen nutzt, Nebels Job und Dienstwohnung unter den Nagel.

Nach seiner Entlassung geht Nebel nach Prag, um Beschwerde dagegen einzulegen und landet während der Samtenen Revolution im Prager Bahnhofsmillieu unter Trinkern, Gaunern und Prostituierten. Sein Glück, dass er fast wieder verliert, findet er bei der Toilettenfrau Květa. Nebel geht schließlich ins Altvatergebirge zurück, wo sich die verwobenen Fäden der Geschichte auflösen: der alte Wachek trifft auf den Stummen, seinen Sohn, der durch die Vergewaltigung von Nebels Kinderfrau bei der Vertreibung der Deutschen gezeugt wurde.

Es ist beeindruckend, wie Regiesseur Stefan Wolfram und Dramaturg Gerhard Herfeldt die komplexe Vorlage der Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Jaromír 99 auf die Bühne gebracht haben. Vieles, was in dem Buch angesprochen oder angedeutet wird, findet sich in der Bühnenfassung wieder. Die Geschichte erschließt sich dem Zuschauer aber nicht nur durch die Handlung. Rückblenden, die anhand von Schattenprojektionen oder Stimmen aus dem Off eingebunden sind, geben im Zusammenspiel nach und nach alle Details preis. So können auch die Zuschauer der Handlung mühelos folgen, die weder die Graphic Novel noch den Film kennen.

Genau wie in Buch und Film sind Bühnenbild, Requisiten und Kleidung der Schauspieler in schwarz-weiß bzw. Grautönen gehalten. Nur wenige Details verwandeln den kleinen Bahnhof von Bílý Potok in die Psychiatrie, eine Kneipe oder die Bahnhofshalle des Prager Hauptbahnhofs. Das meiste bleibt der Fantasie der Zuschauer überlassen. Nur einmal taucht Farbe auf: Als Nebel seiner Květa eine Blume schenkt – eine leuchtend rote Nelke.

Das beste an der Bühnenversion sind jedoch die Schauspieler. Martha Pohla, die gleich vier Rollen spielt, wechselt scheinbar mühelos zwischen Dorothee, Smeterka, Krankenschwester und Prostituierter. Eine tolle Leistung! Tilo Werner überzeugt als Alois Nebel und Grzegorz Stosz ist auch ohne Worte überaus präsent. Bei der Aufführung werden Handlung und Emotionen direkter transportiert als in anderen Medien, man kann sich nicht so leicht distanzieren. Dafür sorgt auch die Idee, das gemeinsame Abendessen von Alois Nebel und Květa direkt zwischen den Zuschauern stattfinden zu lassen.

Anders als in der Vorlage endet das Theaterstück übrigens nicht damit, dass sich der Sohn am Vater rächt – das Ende ist offen. So bleibt Hoffnung dass die Wunden, die die Geschichte hinterlassen hat, irgendwann doch noch heilen können.

Juliane Wünsche
Hungerherz.de
14.06.2016
Foto: Pawel Sosnowski

MUSIKALISCHES SCHAUSPIEL: »Dancer in the Dark - Tänzerin im Dunkeln« — Andreas Herrmann — Sächsische Zeitung

»(…) Nun wagt sich Zittaus Schauspielintendantin Dorotty Szalma an >Dancer in the Dark<, das musikalische Schauspiel von Patrick Ellsworth, welches auf Deutsch richtigerweise >Tänzerin im Dunkeln< heißt. Jene ist Selma, junge, alleinerziehende Mutter mit großem Handicap: Sie verliert zunehmend ihr Augenlicht, ihr zwölfjähriger Sohn Gene trägt die Krankheit ebenso in sich – dem nötigen Geld für seine Operation ordnet sie alles unter, gönnt sich keinerlei Luxus, arbeitet rund um die Uhr und erschwindelt sich dafür die Atteste. Die tschechische Einwanderin ist im harten Industrieamerika vor fünfzig Jahren zur willfährigen Ausbeutung herzlich willkommen, solange sie funktioniert. In Dunkelphasen entführt sie ihre Phantasie in farbige, surreale Musicalwelten, sie will singen und tanzen und tut das abends nebenher in einer Laiengruppe (…)

Ausstatter Wolfgang Kurima Rauschning, mit dem Szalma viele Filmsequenzen dreht, schuf dafür eine faszinierende Kulisse, in denen von hinten sowohl Traumszenen als auch Bühnenbildfotos oder Liveschatten projiziert werden. Das funktioniert ebenso wie der Gefängnismodus nach der Pause überzeugend. So kommt-mit dem Gegensatz einer altruistischen Moralstory und dem komplexen Einsatz von Videotechnik-eine neue Facette in den Spielplan. (…)«

Andreas Herrmann
Sächsische Zeitung
21.03.2016
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL und MUSIKTHEATHER: »Der obdachlose Mond« & »Papageno in der U-Bahn« - DNN

Mondfahrt ohne Obdach und U-Bahn
Zwei neue deutsche Stücke auf den Brettern von Zittau und Görlitz


Fünf Jahre ist die neue, die zweite Ehe der beiden Theaterhäuser an der Neiße just alt, nachdem die erste, von 1963 bis 1988 noch mit dem Zusatz Theaterkombinat versehen, immerhin bis zur Goldenen Hochzeit hielt. Jetzt hatte der geneigte Besucher die Gelegenheit, Zustand und Ausrichtung vergleichend zu beobachten – mit zwei Kammerstücken: Einerseits die Uraufführung von Christoph Klimkes Farce „Der obdachlose Mond“ hinter Zittaus eisernem Vorhang, andererseits die deutsche Erstaufführung von Tilman Zaláns „Papageno in der U-Bahn“ als musikalische Komödie am Görlitzer Apollo.

Beide Häuser pflegen eine recht fleißige und innovative Uraufführungspraxis, in der sich der jüngste Streich gut einfügt. Dieser heißt „Der obdachlose Mond“ und wurde – aus alter Freundschaft zu Barbara und Jürgen Esser, die es eigentlich in Zittau inszenieren sollten – von Christoph Klimke geschrieben. Der gebürtige Oberhausener des Jahrgangs 1959, seit 32 Jahren in Berlin wohnend, ist seit 1995 Barlach-Preisträger und heute bekannt als Leibtexter von Johann Kresnik, für den er drei Opern- und zwölf Tanzlibretti, darunter den Ring der Nibelungen, schuf.

Zittaus Schauspielintendatin Dorotty Szalma war einverstanden – nur das Thema Asyl und eine Kammerbesetzung mit drei Schauspielern fürs Spiel hinterm Vorhang waren Bedingung. Diese treffen sich täglich ab mittags in Helgas Spätshop. Die blond-abgeklärte Witwe, von Rückkehrin Katinka Maché als Gast in bemerkenswerter Eindringlichkeit gespielt, will mit 35 noch einiges im Leben, kann Flüchtlingen nichts abgewinnen, zumal sie nur vorm Laden rumlungern und selten einkaufen. Die anderen beiden sind hingegen den Neuen nahezu gewogen und verfallen eher in Hilfs- als in Panikmodus, als rasch noch 31 weitere hinzukommen sollen, ohne dass irgendwo dafür genügend Platz wäre.

Während der Endzwanziger Lars Ole (David Thomas Pawlak) im Laden aus hilft, dabei Konserven oder Eier abstaubt und den sexuellen Avancen Helgas nichts abgewinnen kann, wogegen er, zart wie hilflos, den einzigen öffentlich bekannten Fremden bewundert, jenen sportlichen Afrikaner Teju vom Eine-Welt-Laden gegenüber. Der burschikose Karl (Tilo Werner) verkörpert den nur bedingt lustigen Mann vom Ordnungsamt, der mal kurz was mit Helga hatte, aber nun mit einer Polin verheiratet ist und sich schon latent auf die Rente und das Leben in deren Heimat freut.

Kaum akute Asylfragen, sondern grundsätzliche Klischees und simple Konstruktionen als Thema

Dass nun der (oder das) Fremde nie persönlich auftauchen, wird schnell klar – es werden jenseits der Unterkunft kaum akute Asylfragen, sondern grundsätzliche Klischees und simple Konstruktionen unter Provinzkleinbürgern thematisiert, wobei rein textlich offen bleibt, ob diese im Schwarzwald, dem Harz oder in der Oberlausitz heimisch sind. Das ist gut so, sonst täte man dem Großteil der Zittauer wie Görlitzer Theaterwiedergänger ob deren Grenzerfahrung und der durchaus beachtlichen Zivilcourage in beiden Städten unrecht. Denn sonst strotzt das Stück vor trivialen Spruchblasen, geklaubt aus prägnanten Boulevardmagazinen. Keiner der Meinungen auf der Bühne mündet in einen tiefgründigen Dialog oder vielleicht gar in eine ernsthafte Diskussion mit Argumenten im Austausch, es bleibt meist bei bekennenden, oft abgebrochenen Monologen.

Nun darf man Klimke, der sein Stück als Farce anbietet, durchaus unterstellen, dass er die Erwartungen geschickt unter laufen will, so dass der gemeine Besucher ob der Umkehrung erst recht ins Grübeln und in Diskussion geraten soll – und damit wohl hier an der echten Grenze, wo die Spaltung der Stadtgesellschaft nicht so scharf geriet, eher Erfolg als Dresden mit Volker Löschs „Graf Öderland“ oder Tilman Köhlers „Maß für Maß“ haben könnte.

Darauf deutet auch die personelle Charakterisierung hin: Ausgerechnet Tante Emma, die hier Helga heißt, schürt als einsame Frau die Angst vorm Fremden. Die anderen beiden üben sich als Männermehrheit in steter Relativierung mittels eigener Erfahrung im Gutmenschsein und -tun, der Hoffnungslose durch die Anziehungskraft der Exotik, der Ordnungshüter als Aufgeklärtester zum Wir schaffen-das-Apologeten.

Nichtsdestotrotz – so die Pointe nach zwei harschen Wendungen kurz vor Schluss, garniert mit Albtraum und Totenmaskentanz, bei der auch Helgas wie Tejus Laden zerstört werden – landen sie alle auf dem Mond und schauen von dort auf die Erde, die als Badeball von der Decke baumelt. Helgas Mondverwünschung wurde ihnen selbst zum Verhängnis, so schwafeln sie von dort enttäuscht weiter, bis dem Stern-Rekorder die Batterien ausgehen...

Regie führt, weil die Essers dann doch nicht konnten, Hannes Hametner. Er bringt Lokalkolorit per Ausstattung in den Laden, von Bautzner Senf über Rotkäppchen und Nudossi, natürlich auch Grabower Mohrenköpfe (die selbstverständlich nicht so heißen dürfen) bis Freiberger Pils. Dafür baute ihm Hausausstatterin Beate Voigt einen wunderbaren Laden auf runder Schrägfläche mit lustig grüner Öko-Ecke und einer geschickten Lichtspiegelung am Rundvorhang, wo auch sonstige Schattenspiele gut wirken.

Doch irgendwie Spielfluss oder gar Anmut wie Rührung vermag sich nicht einzustellen, auch die eingebaute Idee, die ersten acht Artikel der UNO-Menschrechtserklärung von 1948 als Übertext vor jedem Szenenwechsel einzublenden, verpufft, weil sich danach partout keine Assoziationen zum Geschehen einstellen wollen. In Erinnerung bleibt eine Art Diashow beeindruckender Fotos des Flüchtlingsstromes aus dem vergangenen Sommer, gezeigt zu Artikel 5 der Resolution: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Dennoch bleiben Zweifel, ob es diese Version zum Nachspiel schafft – und damit der von Dorotty Szalma gewünschten Zitierung von Zittau als Uraufführungsort kommen wird.

Hoffnungsvoller ist da sicher Klimkes nächste Uraufführung. Denn sein Libretti für die Oper „Pym“ von Johannes Kalitzke, die schon am 18. Februar in Regie von Johann Kresnik in Heidelberg Premiere feiert, befasst sich mit dem Roman „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“ von Edgar Allan Poe, um ihn mit Texten von Walter Benjamin und Fernando Pessoa zu ergänzen.

Das gilt auch für „Papageno in der U-Bahn“, eine musikalische Kammerkomödie, die an der Görlitzer Kammerbühne Apollo Premiere und damit deutsche Erstaufführung feierte. Hier lieferte Szalma die Idee samt Übersetzung aus dem ungarischen Original von Tibor Zalán, die Umsetzung übernahmen der aus Zittau stammende Frieder Venus – als Schauspieler Dresdnern (und DNN-Lesern) sicher als Mephisto in der Urfaust-Inszenierung von Rudold Donath von 1975 bekannt – und Ausstatterin Änn, die in Berlin ein „Atelier für wildes Denken betreibt“.

In der sonst menschenleeren U-Bahn Station unter der Oper flüchtet ein bunter Vogel namens Daniel Klein (Hans-Peter Struppe), der als Papageno in Mozarts „Zauberflöte“ bereits 108 Aufführungen in drei Inszenierungen erlebte. Nun stört er – dank Bombenalarm in der Oper – die junge Punkerin Lola (Renate Schneider), die in der Station haust. Die beiden, eigentlich kein Traumpaar aus Oper- wie Unter(grundbahn)welt, kommen ins Gespräch – und flugs wird daraus, weil auf dem Bahnsteig noch ein Flügel mit Pianistin Olga Dribas weilt, eine kurze Reise durch den verqueren Vormittag des Baritons, seit 13 Jahren hier Solist, die kurz vorm Alarm mit Entlassung durch den neuen, jung-ekligen Sparintendanten endet.

In einem achtzigminütigen Ritt über acht Begegnungen und neun Lieder, meist Mozart-Arien, wird die Geschichte erzählt, wobei Schauspielerin Renate Schneider, doppelter Zittauer Publikumsliebling, alle Gegenspieler, meist -innen, mimt und dabei alle Register der Verwandlung und Komik zieht, während Struppe sowieso mit allen komödiantischen Wassern gewaschen ist.

Venus und Änn bescherten Görlitz vor knapp vier Jahren schon den Kreisler Abend „Du sollst nicht lieben“ – natürlich mit Struppe in der Hauptrolle. Als Erinnerung daran flochten sie nun dessen „Musikkritiker“ ein – als Berufsoption für den Opernstar. Sie schaffen hier einen witzigen, runden Abend, der zum Schluss auch emotional funktioniert und dank Theaterehe im Namen Hauptmanns im März auch gen Zittau wandert, während der Mond vorerst nur dort weilt.

Andreas Herrmann
Dresdener Neueste Nachrichten
13./­14. Febraur 2016

SCHAUSPIEL: »Der obdachlose Mond« — Rafael Barth — Sächsische Zeitung

„Heute nix hier Negerkuss“

Soll Theater mit schwarzem Humor Fremdenfeinde foppen? Die Uraufführung „Der obdachlose Mond“ versucht es.


Der Laden sieht aus, als habe sich seit der Eröffnung anno 1946 kaum was verändert: dunkelbraune Holzregale, altes Parkett, eine Geldkassette wie aus Kinderzeiten. Hier soll die Welt so bleiben, wie sie ist, wenn sich schon sonst alles ändert. Wichtigste Neuerung sind die 31 Flüchtlinge, die bald ins Dorf kommen. Ladenbesitzerin Helga empört sich und plant die Empörung ihrer Nachbarn mit ein. „Ihr wisst doch, wo Häuser brennen, brennen Menschen leicht“, sagt Helga, und verbindet ihre Abscheu mit Geschäftssinn. Neue Feuer zeuge hat sie im Angebot.

So abgefeimt geht es zu in der kleinen Welt, die sich der Schriftsteller Christoph Klimke für sein Theaterstück „Der obdachlose Mond“ ausgedacht hat. Das Gerhart Hauptmann-Theater hat die Farce bei ihm bestellt, am Freitag in Zittau uraufgeführt und damit einen kleinen Coup gelandet. Denn Klimke hat hierzulande durchaus einen Namen, vor allem wegen seiner Libretti für Tanzprovokateur Johann Kresnik. Im vorigen Jahr schockte das Duo die Berliner Volksbühne mit einer fleischlustquälenden Version der „120 Tage von Sodom“.

Ein bisschen Fleisch- oder sonstige Lust täte nun dem Personal im Tante-Emma-Laden ganz gut. Neben Chefin Helga sind da noch ihre Aushilfskraft Lars Ole und Kumpel Karl vom Ordnungsamt, der regelmäßig vorbeikommt. Dann hängen die drei im Laden rum, trinken Bier, knabbern Russisch Brot, essen Wiener gleich aus dem Glas, rauchen, besprechen die Lage. Fluppdiwupp kommt man von oberschlesischen Großeltern über deutsche Kolonien zu aus gewanderten Familienmitgliedern und Lebensträumen. Meist geht keiner auf den anderen ein, Gedanken tauchen auf und ab, Sätze hängen unvollendet in der Luft: „Die wollen doch nur unser…“

Gehemmte Gestalten
Mit Menschen, die nach Deutschland einreisen, überhaupt mit Dingen, die nicht herkömmlich riechen, will vor allem Helga nichts zu tun haben. Aber auch die beiden Männer springen hin und her zwischen Neugier, Einfühlungsvermögen auf der einen Seite und haarsträubenden Klischees, Vorurteilen auf der anderen. Fast verschämt wischt Lars Ole die Kreidetafel mit den Tagesangeboten ab, nachdem jemand festgestellt hat, dass man Negerkuss nicht mehr sagen darf. Fortan steht da: Kuss mit Migrationshintergrund.

Es gehört zu den Stärken des Stücks, dass es die ganze Kopf-Herz-Konfusion zur Sprache bringt, die einen aufreiben kann, wenn man sich mit der bunter werdenden Gesellschaft beschäftigt. Autor Klimke hat kräftig bei Klischees zugelangt, um Fremdenangst und -hass mit Witz zu torpedieren. Das Publikum lacht mehrfach. Dabei haftet der Inszenierung von Hannes Hametner etwas Selbstherrliches an.

Helga führt den Laden vor allem weiter aus Pflichtgefühl gegenüber ihrer Mutter, aber selbst mit einem Lottogewinn wüsste sie nichts anzufangen. Karl wollte früher mal Jura studieren, jetzt verteilt er Knöllchen. Lars Ole würde gern mit einem Mann zusammenleben, traut sich aber nicht. Alle drei sind lebensgehemmte Gestalten, sagt das Stück, haben deshalb eine stark beschränkte Weltsicht und eine Menge gegen Ausländer. Es sind armselige, denunzierte Figuren.

Da hinkt das Theater der Realität deutlich hinterher, in Zeiten, da Fremdenscheu in unterschiedlichen Ausführungen selbst in erfolgsgewärmten Wohnzimmern Platz findet. Auch zünden nicht alle Übertreibungen, nun, da selbst Landtagsabgeordnete auf Flüchtlinge schießen lassen wollen. Im Laufe der Zeit fiebert das Trio zur Tat: Den dorfansässigen Eine-Welt-Laden, betrieben von einem Afrikaner, haut man kurz und klein. Den Mikrokosmos einer verstörten Gesellschaft siedelt Ausstatterin Beate Voigt auf einer schrägen Kreisfläche an. Einmal, in einer Schlafszene, während Fotos von zerstörten Städten und Flüchtlingen eingeblendet werden, lässt Schauspielerin Katinka Maché ihre Helga immer wieder herunterrutschen. Auch bringt sie die sanfte Seite der Scharfmacherin zur Geltung und lässt sie in einem unbeobachteten Moment feststellen: Eigentlich bin ich gar nicht so.

Mit dem Staublappen am Hühnerei
Die beiden Herren grenzen sich von Anfang an gut gegeneinander ab. Tilo Werner spielt Karl als raubeinigen, kumpelhaften Mann von Recht und Ordnung. David Thomas Pawlak gibt Lars Ole als sanftmütigen Landenhelfer, der Konservendosen und Hühnereier mit dem Staublappen sauber macht. Es scheinen die üblichen Handgriffe zu sein in einer Zeit, die ziemlich unüblich wird. Und ungemütlich sowieso. So hat es Helga immer vorausgesagt, so kommt es ja dann auch stückendlich. Aber zum Glück muss sich dann das verträumte Dreigespann damit nicht mehr rumschlagen, zumindest nicht auf Erden.

Rafael Barth
Sächsische Zeitung
08.02.2016
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL: »Der obdachlose Mond« — Hartmut Krug — Die Deutsche Bühne

Die Rezension finden Sie hier:
DIE DEUTSCHE BÜHNE

SCHAUSPIEL: »Welche Droge passt zu mir?« - Andreas Herrmann - Sächsische Zeitung

Rauschsolo für eine Untote

Kerstin Slawek spielt in Kai Hensels „Welche Droge passt zu mir?“ eine Geschäftsfrau, die im Strudel um Glück und Beherrschung scheitert.


Ein simpler Vortrag vor neunzig gespannten Zuhörern: Die superhype Hanna (Kerstin Slawek) erklärt mit Rollkoffer und Minibeamer, gesteuert per smarten Touchhandy, die Wirkung von modernen Drogen. Denn: Deren gesteuerter Konsum sei Ausdruck von Selbstdisziplin! Schnell schweift sie ab und an etwas einwerfend oder schnüffelnd vom Medizinischen immer mehr ins Private ab. Sie erzählt vom Handwerkslehrling im Haus, der etwas dabei hat, vom exotischen Angolaner aus Luanda, vom Sohn Pasquale, der bleich und dürr offenbar schon unter ihrem Ex-Konsum leidet, und vom geilen, dicken Ehemann, der angeblich für einen Marathon trainiert und eine neue Tochter zur Heilung anleiern mag …

Zittaus Intendantin Dorotty Szalma hat das Stück lange vorbereitet, um ein Viertel gekürzt und gut an die Gegebenheiten des Foyers angepasst. Erstmals wird die neue Empore für einen längeren Ausflug genutzt, Slawek ist beim Aufgang von Partymusik getrieben, beim Abgang trällert sie ein Lied vom König, oben hält sie – angeblich ebenso rauschtypisch – einen faktenreichen Monolog über die Lage der ungerechten Welt. Kai Hensel, Hamburger des Jahrganges 1965, dessen Dramatiker-Karriere anno 2000 mit „Klamms Krieg“ und zwei weiteren Uraufführungen in zwei Jahren in jenen seligen Zeiten des Dresdner Uraufführungstheaters begann – schrieb den Monolog fürs Freiburger Theater schon vor zwölf Jahren, also in besten Ecstasy-Zeiten. Seitdem ist für die Jugend vor allem das bezahlbare Crystal Meth hinzugekommen, dies wurde im Stück geschickt ergänzt, wobei nicht ganz klar wird, welche Drogen die edel gekleidete und mit bestem Rollschminkkoffer ausgestattete Powerfrau für sich selbst als passend empfindend schluckt, um (sich ab und an schminkend) rasch zu altern. Wie „Klamms Krieg“ – mit weit über einhundert Inszenierungen schnell das erfolgreichste neue Stück seiner Zeit – erobert „Welche Droge passt zu mir?“ vor allem Klassenzimmer und weist schon über fünfzig Nachspiele auf. Dass die Zittauer Foyervariante, bei der die Hauschefin auch die notwendigerweise karge Ausstattung mit übernahm, als überaus gelungen in die Annalen eingehen wird, liegt an der Intensität des Spiels und der Erhaltung der Spannung.

Denn Kerstin Slawek hält den mählichen Rausch mit vermehrten Eskapaden bis zur drohenden Eskalation aufrecht, ohne ins triviale Alkohollallen zu verfallen – der absehbare Zusammenbruch oder die Katastrophe bleiben klugerweise, ebenso wie die persönliche Gefährdungsstufe dem Kopfe des Betrachters vorbehalten.

Nach der Premiere am Freitag, bei der ein Großteil des Publikums noch recht lange sitzenblieb, um sofort betroffen eigene Erfahrungen auszutauschen wird das Regieteam nun rasch an der auf eine Schulstunde verkürzten Version arbeiten, die dann ab Mitte Januar für 14-Jährige tauglich sein soll. Dorotty Szalma will bei der Straffung vorwiegend an die Szenen einer mindergeglückten Ehe ran – und dann da mit in möglichst viele Schulen des Kultur raumes. Und sie verspricht, wann immer es ihr Kalender zulässt, mitzukommen, um Thema wie Stück zu diskutieren. So dürfte die zweite, also die Stunde der Diskussion, nahezu noch interessanter werden – die Peanuts, für die Schulen oder Eltern das Werk buchen können, sind rasch einge spielt: bei der Minderung des Drogenbudgets oder bei späteren Behandlungskosten.

Andreas Herrmann
Sächsische Zeitung
30.11.2015
Foto: Pawel Sosnowski

SCHAUSPIEL: »Nathan der Weise« — Andreas Herrmann — Sächsische Zeitung

Nathan unter Weisen und Waisen

Ivar Thomas van Urk inszeniert Lessings Klassiker mit Textvertrauen und Wucht, aber ohne Firlefanz in Zittau.


Nathan ist umzingelt von Halbweisen und Vollwaisen. Fünf Christen und drei Muslime machen dem alleinstehen den Juden das Leben schwer. Doch das Volk – damit sind durchaus alle Stämme, die um 1192 nach Christus in den Zeiten des Dritten Kreuzzuges in Jerusalem hausen, gemeint – heißt nur ihn „den Weisen“, ob wohl Nathan (Tilo Werner) Reichtum tendenziell lieber ist. Für den lavriert er geschickt zwischen den Mächtigeren, dem Sultan Saladin (Klaus Beyer) und dem Patriarchen (Klaus Beyer).

Doch nach der Rettung seiner schicken blonden Tochter aus der Feuersbrunst begehrt ein christlicher Heißsporn plötzlich jene Recha (Maria Weber) – trotz ihres jüdischen Glaubens. Der vom Sultan unerklärlicherweise verschonte Tempelritter – gespielt von Stefan Sieh mit Kalaschnikow, Lederjacke, grauem Kapuzenshirt und mit rotem Kreuz statt Stern auf der Brust – versteht das Zögern des reichen und klugen Mannes nicht. Doch dieser, der nebenbei dem Sultan finanziell hilft und jenem per Fabelerzählung als Reifeprüfung verklickert, warum zwar jedem sein Gott der liebste, aber keiner besser als der andere sein kann, hat genetische Bedenken und braucht noch Zeit zur genauen Recherche.

Der Machtkampf, bis dato geprägt von Furcht und Misstrauen, wird vor allem durch Frauenlist und -tücke – Renate Schneider als kluge Sultanschwester Sittah und Sabine Krug als durchtriebene Christin Daja – in kommunikative Bahnen gelenkt. Doch Lessings Story, ein dramatisches Gedicht in Blankversen mit fünf Aufzügen, die bei der posthumen Uraufführung vor 232 Jahren, und damit vier Jahre nach dem Tod des Kamenzer Aufklärers, noch echt religiösen Sprengstoff barg, hält rings um den Kern der Ringparabel, die die prinzipielle Gleichwertigkeit von Gläubigen aller Art herleitet, noch etliche andere Nuancen parat: Glaubensfragen, Liebesgeschichte, Generationenkonflikt – und nebenher die Schilderung von allgegenwärtigen Kriegsverlusten. So verloren nicht nur der junge schwäbische Tempelherr und Recha ihre Eltern. Auch Nathans Frau samt allen sie ben Kinder sind ermordet. Somit erscheinen fast alle mehr als Opfer denn Täter. Der Kreislauf der Gewalt aus reinen Rachegründen ist vorgezeichnet, käme nicht die Potenz von Saladins verstorbenem Bruder Assad ins Spiel.

Der niederländischer Regisseur Ivar Thomas van Urk lässt zum Start des großen deutschen Nathan-Reigens – insgesamt stehen 16 Inszenierungen in aktuellen Spielplänen – nichts davon aus. Er vertraut der inneren Logik des Meisterwerkes und auf die Schönheit der Sprache. Nur behutsam ergänzt er sie mit heutigem Jargon. Vier erfahrene und drei recht neue Darsteller spielen neun Rollen, nur der Emir ist gestrichen. Ersteren merkt man die Erfahrung mit dem akustisch nicht einfachen Saal an, sie sind durchgängig verständlich und geben dem Rahmen Halt. Das ist nötig, denn die Grundidee, die Bühne fast leer und alle Spieler immer hinten in der Szene zu lassen, birgt bei deren Größe Tücken im Zusammenspiel. Hausausstatterin Beate Voigt bastelte dazu einen zerstört anmutenden Bühnenbretterboden, der allen Beteiligten Unbeholfenheit und Vorsicht in der Bewegung unterstellt. Dazu braucht es nur noch ein Paar Stühle, Tische und Matratzen, von den Spielern selbst mitgebracht, und ein funktionierendes Lichtkonzept (Beleuchtung: Roland Günther), um die Ortswechsel hinreichend anzudeuten.

Bei Maria Weber, Tilo Werner und dem spielerisch – ebenso wie Stefan Sieh – herausragenden Klaus Beyer wird sich das rasch geben, sobald der Premierendampf raus ist und sich Routine samt Ruhe ein stellt. Bei der betroffen-umjubelten Premiere am Freitag kamen einige Dialoge, vor allem zwischen Sultan und Nathan, noch zu heftig, um alles zu verstehen. Beängstigend klar hingegen Beyers Patriarch, der als bucklige schwarze Gestalt den einzigen Fundamentalisten gibt und des Tempelherrn fiktive Frage nach den Folgen für Nathans Adoption mindestens vier Mal mit „Der Jud‘ wird brennen!“ derart scharf beantwortet, dass der ganze Saal zusammen zuckt. Ebenso klug die andere Doppelbesetzung: David Thomas Pawlak spielt einerseits den Derwisch Al-Hafi, nun als Schatzmeister in des klammen Sultans Diensten, andererseits den Klosterbruder – beides Boten in vermeintlich andere Kulturen, aber Nathan gewogen. Der eine orientalisch durchtrieben, der andere keuch und mit seiner Kutte der Einzige in klassischer Optik. Alle anderen stecken in modernen Klamotten.

Van Urk beschert Zittau so einen Abend ohne theatralen Firlefanz und technischem Schnickschnack, der zwar nicht die wohlige Wärme anderer Inszenierungen (so wie jener legendären mit Dieter Mann in Dresden) erfährt, uns dafür aber pädagogische Moralzeichen erspart. Hier ist Mitdenken gefragt, keiner der Beteiligten ist ganz sympathisch, der Nathan Tilo Werners gar eher ein Getriebener, der seine empathischen Leerstellen mit geschäftlichem Erfolg kompensiert.

Das passt gut in die Zeit, genauso wie das biblische Schlussbild – eine Mischform aus Krippenspiel und der Anmutung moderner Flüchtlingslager – in das sich alle Beteiligten nach einer gewissen Ratlosigkeit einreihen. Dass Lessings Text in dieser reichlichen Dreistundenfassung seine hinterlistige Wirkung entfaltet, ist keine gewagte Prognose. Solches Theater ist sein Geld wert, sowohl in der Landes-, als auch an der Abendkasse.

Andreas Herrmann
Sächsische Zeitung
02. November 2015
Maria Weber als Recha

Foto: Pawel Sosnowski

TANZ

TANZ: »Der Name der Rose« - Oliver Hafke Ahmad - gefläshed - Magazin für Musik und Kultur

Der Name der Rose wird in Görlitz getanzt

Mit viel Applaus hat am Pfingstsamstag das Tanztheaterstück nach Motiven aus dem 1980 erschienenen Roman von Umberto Eco „Der Name der Rose“ in Görlitz Premiere gefeiert. Die Choreografen Dan Pelleg und Marko E. Weigert lassen ihr elfköpfiges internationales gemischtgeschlechtliches Ensemble in düsteren Mönchskutten die im 14. Jahrhundert in einem Benediktinerkloster spielende Kriminalgeschichte um richtigen und falschen Glauben und von der tödlichen Gefahr erzählen, die von Büchern, von Erkenntnis und vom Macht entlarvenden Humor ausgeht.

Urplötzlich fällt eine schwere Schwarte aus dem Bühnenhimmel, knallt hart auf den Bühnenboden auf und reißt die Zuschauer gleich am Anfang aus der meditativen Klosterstimmung des ersten Bildes. Ist es die Bibel? Ist es Aristoteles verschollener Teil der "Poetik", der von der Komödie handelt? Oder ist es die Erkenntnis schlechthin, die hier zum Faszinosum und damit zur Gefahr wird? Es ist eine schlichte schwarze Bühne (von Britta Bremer), das Licht kommt von der Seite oder von oben und erinnert an die Säulengänge eines Klosters oder das von Säulen umsäumte Hauptschiff einer Kirche.

Die Gefahr lodert buchstäblich flammend aus den Buchseiten und es dauert nicht lang, bis der erste Mönch tot am Boden liegt, weitere, die sich um das Buch zu reißen scheinen, werden folgen. Mit den Toten fallen auch die Hüllen, dürftig verhüllt in weißer Unterwäsche erscheinen Engel oder sind es die nackten Seelen der Mönche? Die noch Lebenden umtanzen einander in homoerotischer Leidenschaft. Wobei die Tanzpartner häufig Männer und Frauen sind, die aber beide (männliche) Mönche darstellen, ein Fest für an Genderfragen interessierte.

Umgesetzt mit den Mitteln des zeitgenössischen Tanzes, mit Rennen, Laufen, Klettern, Fallen, Ausdruckstanz, Modern Dance und Ballettfiguren ist „Der Name der Rose“ keine getanzte Nacherzählung des Mittelalter-Bestsellers von Umberto Eco auch wenn Choräle und Alte Musik, Schalmeien und Trommeln erklingen. Es geht um die Bilder von Inquisition, den Kampf des Einzelnen mit sich selbst und der Sehnsucht nach einem heimlich geliebten Menschen. Der Inquisitor wird hier von Narren gequält, Humor bekämpft die blutige Rechthaberei der Mächtigen.

Es geht also um die Einhaltung von sich selbst und von außen auferlegter Regeln und der Frage nach Konformität oder Nonkonformität in einer geschlossenen Gruppe. Ist die Rose also weiß und rein wie die vielen guten Absichten einer reinen Seele oder ist sie rot und getränkt vom Blut ausgelebter Leidenschaften und des Kampfes um persönliche und gesellschaftliche Freiheit? Die Antwort kommt nach rund siebzig kurzweiligen und ausdrucksstark getanzten Minuten und hat das Premierenpublikum in Görlitz verzückt.

Oliver Hafke Ahmad
gefläshed - Magazin für Musik und Kultur
20.05.2016
Foto: Marlies Kross

TANZ: »Der Name der Rose« - Ute Grundmann - Die Deutsche Bühne

Erlöst? Befreit?

Ein Foliant knallt aus dem Himmel auf die Bühne. Mönche in dunklen Kutten umkreisen den geschlossenen Band, kriechen, robben ängstlich und ehrfürchtig um ihn herum. Ob es das „Buch der Bücher“ ist, bleibt offen, doch es muss etwas Magisches sein, so wie ein einzelner Mönch, von Benel umgeben, vorsichtig einige Seiten umblättert. Dieses altehrwürdige Buch ist fast der einzige direkte Bezug zu Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“, nach dem Dan Pelleg und Marko E. Weigert im Theater Görlitz ihren neuen Ballettabend gestaltet haben.

Es gibt keinen William von Baskerville und seinen Schüler, keinen Bücherkrimi, auch (fast) keine Liebesgeschichte. Sondern es geht um Macht und Beherrschung, Glaube und Zweifel, Widersetzung und Befreiung. Dazu hat das Choreographen-Duo Musiken vor allem aus dem 12. bis 15. Jahrhundert ausgewählt, Madrigale von Carlo Gesualdo, aber auch Mozart und Bach. Und zunächst beherrschen die Männer in den dunklen Kutten die fast leere Bühne mit nur einigen Stelen an der Seite (Bühne: Britta Bremer). Doch dann mischen sich vorsichtig Figuren in Weiß ins Spiel, Männer und Freuen gleichermaßen in knielangen Hemden, die sich und die Welt erkunden, mit Pirouetten, aber auch eckigen Bewegungen mit angezogenen Knien.

Ein mit Lämpchen beleuchtetes Kreuz, wie das Buch aus dem Himmel kommend, stellt jedoch die alte Ordnung wieder her. Zu unheilvoller Musik lesen zwei Mönche, nebenumwallt in dem Buch, doch zu einem „Agnus Dei“ sind sie wieder ein Mann und eine Frau in Weiß, die sich vorsichtig umtanzen, sich auf Händen und Knien bewegen, sie sich um seinen Leib windet. Sie scheinen ihre Welt, ihr Terrain ebenso zu erkunden wie abzustecken gegen die düsteren Gestalten. Das ist jedoch nicht thesenhaft dargestellt, sondern mehr zu erahnen und manchmal wird eher die Stimmung der Musik vertanzt als der Inhalt.

Dann gesellt sich zwischen die dunklen und die weißen Figuren eine dritte Gruppe, in dunklen, weiten Hosen und knappen Oberteilen, die fast derwischhaft in die Szenen hineintanzen und hörnergeschmückte Kappen tragen. Da treffen Welten und Mächte auf- und gegeneinander, die sich mischen, trennen, bekämpfen.

Eine der stärksten Szenen ist die mit einem weiteren Herrschaftssymbol, einem Thron. Den erobert sich – zum Klang einer hohen Männerstimme – ein Mann, indem er die Sitzfläche umschlängelt, sich zwischen die Stuhlbeine spannt, er scheint schon zu siegen, bis drei der Gestalten mit Hornkappen ihn vertreiben. Nicht den genauen Inhalt, aber die mystische Stimmung von Ecos Roman nehmen Pelleg und Weigert immer wieder gerne auf: Da wächst ein dürrer, weißer Baum aus dem Bühnenboden, von fünf Mönchen umtanzt; aus seinen Wurzeln entsteht ein weißes Ei, vor dem ein Mann eine Frau um seinen Körper windet und über ihren Rücken abrollt. Und schließlich lodert zu Barockklängen noch eine Feuerschale und ragt eine weiße Rose von der Seite herein.

Das sind so magisch-mythische Zugaben, über denen die beiden Choreographen aber nicht ihr Thema vergessen. Denn schließlich reißen sich die Mönche fast lustvoll die Kutten vom Leib, bis alle elf Tänzer ganz in Weiß erscheinen – erlöst? Befreit? Auf dem Weg wohin? Nicht alles ist erklärt und erklärlich an diesem 80-minütigen Tanzabend, der dennoch einen Sog entwickelt, dem man sich schwer entziehen kann. Und am Ende er- und verglüht zu Arvo Pärts „The Beatitudes“ eine rote Rose.

Ute Grundmann
Die Deutsche Bühne
17.05.2016
Foto: Marlies Kross

TANZ: »Der Name der Rose« - Boris Michael Gruhl - Tanznetz.de

EINE ROSE IST EINE ROSE, IST EINE ROSE...“

Der Name der Rose“ nach Umberto Eco als Tanztheater in Görlitz


Der Name des italienischen Schriftstellers, Philosophen, Kolumnisten und Medienwissenschaftlers Umberto Eco, der am 19. Februar im Alter von 84 Jahren verstarb, ist für viele Menschen mit dem Titel seines 1980 erschienen Buches „Der Name der Rose“ verbunden. Auf den ersten Blick ein historischer Kriminalroman, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einer italienischen Benediktinerabtei spielt. Das späte Mittelalter, soziale, religiöse, politische Konflikte und, tatsächlich, eine Mordserie. Es geht um eine geheime Handschrift, die am Ende verbrennt. Es ist – welch’ herrliche Ironie - der zweite Teil der Poetik des Aristoteles und handelt von der Komödie! Es geht um Leidenschaften, eine verbotene Liebe, und nicht zuletzt um die befreiende Kraft des Lachens, des Humors. Dass damit die Gegenwart im historischen Gewand ins Spiel kommt, liegt auf der Hand.

Der Roman wurde prominent verfilmt, ein Publikumserfolg, weniger bei der Presse, auch Eco selbst war nicht so begeistert. Es gibt Hörspiele, und jetzt auch ein Tanzstück von Dan Pelleg und Marko E. Weigert mit der Tanzkompanie des Gerhart-Hauptmann-Theaters Görlitz-Zittau. Dass hier kein Handlungsballett zu erwarten war, ist klar. Pelleg und Weigert geht es in ihrem Tanzstück um eine Auswahl von Motiven, die in gut 80 Minuten mal direkter, mal stärker assoziativ, in der Ordnung der Vorlage, die sich in sieben Tagen, in Anspielung auf die sieben Posaunen der Apokalypse beim Jüngsten Gericht abspielt, in fließenden Übergängen vollzieht. Die Choreografen suchen den Bezug zur Gegenwart, auch das ist sofort klar. Zeitgenössische Tanzsprache in mittelalterlicher Gewandung, besonders in der Anonymität körperverhüllender Mönchskleidung, dazu eine Auswahl zugespielter Musik des späten Mittelalters, strenge geistliche Gesänge im Kontrast zu weltlicher, tänzerischer Musik, die dann über Bach und Mozart mit Arvo Pärt ins 20. Jahrhundert führt.

Man kann immer wieder Motive erkennen, die den Kampf des Körpers und seiner Ansprüche im Widerstand zu dessen Verhüllung und damit verbundener Unterdrückung des Individuums zeigen sollen. So gibt es ein Duett, in dem zwei Menschen sich ihre Kutten gegenseitig herunterreißen und sich dann in der Schutzlosigkeit der nackten Haut die pure Lust des Körpers ihr Recht verschafft. Mal schwebt ein massives Kreuz bedrohlich über den Menschen, es wird auf die Erde geholt, in den Boden gebohrt, geerdet. In der Premiere will das leider nicht klappen, der Tänzer kann das Kreuz nicht aus der Aufhängung lösen, eigentlich ein toller Zufall nach dem Motto: ‚Das Kreuz mit dem Kreuz’. Dann, in Analogie zum Kreuz als Zeichen religiös motivierter Unfreiheit, eine Szene unterm Pendel einer Münze mit dem Abbild des Kaisers als Motiv weltlich motivierter Unfreiheit. Die Narren treten auf, mit ihren Kappen haben sie etwas Teuflisches. Ein heiliger Stuhl wird besetzt, mehr noch - das ist wohl die stärkste Szene des Abends - das Machtinstrument wird von einem Tänzer regelrecht vergewaltigt und der wird dann doch unter der Last des Symbols von diesem massiven Zeichen erdrückt. Also immer wieder der Gegensatz von Aufbruch und Flucht und Rückzug, Selbstverleugnung, Versuchen der Befreiung, Rückfällen in die Unfreiheit. Dabei spielen die Kostüme von Markus Pysall, einmal die Kutten der Anonymität, die auch das Gesicht verhüllen, und die der Befreiung in ihrer hellen Luftigkeit, eine besondere Rolle.

(…)

Bleibt die Frage nach der Bedeutung der Rose. Die Unergründlichkeit dieses Wunders der Natur in der Korrespondenz zur Unergründlichkeit der menschlichen Existenz wird zu Beginn in einem Text nach Michael Ende angesprochen. Am Ende, in einer Apotheose der befreiten Körper unter einer übergroßen Rose, die in ihrer Bühnenkünstlichkeit auch bedrohliche Wirkung hat, schließt sich der Kreis: „Eine Rose ist eine Rose, ist eine Rose....“, frei nach Gertrude Stein. Es sollte wohl auch ein Abend des Tanzes für die Freiheit der Unergründlichkeit und der damit verbundenen Freiheit des menschlichen Geistes sein, der sich nicht zuletzt in der Freiheit des Körpers durch den zeitgenössischen Tanz ausdrückt. (…)

Boris Michael Gruhl
Tanznetz.de
17.05.2016

TANZ: »Vorsicht Glass!« — Irmela Hennig — Sächsische Zeitung

Zugfahren mit Löwinnen

»(…) Am Sonntag also hat das Ensemble, unter Leitung von Dan Pelleg und Marko E. Weigert, >Vorsicht Glass!< wieder auf die Bühne gebracht. Die Company tanzt dabei zu ausgewählten Werken des US-amerikanischen Musikers und Komponisten Philipp Glass (geboren 1937). Er gilt bis heute als einer der wichtigsten Vertreter der Minimal Music. Die greift verschiedenste Einflüsse vom Mittelalter bis zur Gegenwart auf, auch afrikanische und asiatische Klänge. Und sie ist geprägt von endlosen Wiederholungen kurzer musikalischer Motive und Tonfolgen. Nur allmählich und oft wenig auffällig kommen Veränderungen.

Am schönsten beschrieben hat US-Theaterregisseur Peter Sellars, was Philipp Glass in seiner Musik macht: >Bei Phil ist es ein bisschen wie bei einer Zugfahrt einmal quer durch Amerika: Wenn Sie aus dem Fenster sehen, scheint sich stundenlang nichts zu verändern, doch wenn Sie genau hinsehen, bemerken Sie, dass sich die Landschaft sehr wohl verändert – langsam, fast unmerklich.<

Die scheinbare Monotonie, die allmähliche Veränderung – das greifen einige der Tanzstücke in >Vorsicht Glass!< auf. Gleich zu Anfang sind das die Löwinnen – >Lionesses<. Gleichförmig schwingen zwei Tänzerinnen ihre Shirts wie Lassos über dem Kopf. Unaufhörlich, die eine noch, als die andere schon nicht mehr kann und keucht. Dann aber ändert sich das Bild. Aus den scheinbar nur auf sich konzentrierten Figuren werden kämpfende Löwinnen, die sich belauern, angreifen, beißen, umherzerren. (…)

Einen großen Teil der Einzelstücke haben Ensemblemitglieder selbst choreografiert und ausgestattet. Die Musikauswahl ist klug getroffen, denn die Monotonie mancher Philipp-Glass-Werke kann auch nerven. Doch der Abend bietet neben seiner typischen Minimal Music romantische Klaviersoli, Textpassagen und Klänge, die an irische Folklore erinnern.…)

Irmela Hennig
Sächsische Zeitung
05.04.2016
Foto: Pawel Sosnowski

TANZ: »Die kleine Meerjungfrau« — Birgit Weise — Sächsische Zeitung

Tanz in Schwanz

Die Tanzcompany des Theaters Görlitz verzaubert mit einem Ausflug in Hans Christian Andersens Unterwasserwelt der kleinen Meerjungfrau.


Ein Matrose spielt am Ufer mit einem kleinen Holzboot und schaut in die Ferne. Er erblickt die Silhouette einer Meerjungfrau, lässt ab vom Holzboot und schwimmt dem Meereswesen entgegen.Muss es nicht genau andersherum sein, die Meerjungfrau schwimmt hin zum Matrosen? Egal wie, die Sehnsucht ist auf beiden Seiten. Die Sehnsucht nach dem anderen, nach der Fremde, wie sie Hans Christian Andersen in seinem Märchen „Die kleine Meerjungfrau“ beschreibt und wie sie im gleichnamigen Tanzstück des Theaters Görlitz seit Sonnabend auf die Bühne gebracht wird. Die Choreografen Dan Pelleg und Marko E. Weigert bescheren dem Publikum einen Tanzabend der besonderen Art – mit Luftakrobatik wird schwebend eine neue Dimension des Tanzes erobert.

Das Zuhause der kleinen Meerjungfrau mutet an wie eine Unterwasserkletterwand mit kleinen Muschelhöhlen als Behausung. Die Tänzer klettern zwischen diesen rauf und runter, schlängeln sich drumherum, gleiten luftakrobatisch dran vorbei. Das ist nicht zuletzt deshalb sehr beeindruckend, da bei einigen die Füße in einem Fischschwanz stecken, was die Bewegungsfreiheit einschränkt. Eine ganze Zeit lang gleiten, schweben und schwänzeln so die Meereswesen über die Bühne in ihren meist blau-grün-violett-schuppigen Kostümen, in stimmiges Licht getaucht und von sphärischer Musik begleitet. So kommt man wirklich an in der Unterwasserwelt der kleinen Meerjungfrau, die eine große Sehnsucht in sich trägt nach den Menschen und nach deren Seele.

Füße wie auf Messers Schneide
Bei den Matrosen auf dem Schiff geht es allerdings weniger sphärisch zu. Die Unterwasserkletterwand verwandelt sich flugs in einen Dreimaster, auf dem die Männer ausgelassen tanzen zu Rhythmen, die zwei Beine verlangen. Die kleine Meerjungfrau schaut zu, noch gefangen in ihrem Fischschwanz, aber schon längst mit einer Entscheidung im Herzen, die unumkehrbar sein wird. Amit Preisman tanzt ihre kleine Meerjungfrau fortan mit zwei Beinen, endlich als Mensch. Die „richtigen“ Menschen um sie herum, in silberne Mäntel gehüllt, bewegen sich stereotyp nach lauter, pochender Musik. Aber sie ist mittendrin, das wollte sie. Mit Beinen zwar, aber ohne Stimme, sie kann sich ihrem Matrosen icht verständlich machen und sich als seine wahre Retterin zeigen. Jeder Schritt schmerzt, die Füße bewegen sich auf Messers Schneide. Wird sie je ankommen in der Fremde? Wird sich der Geliebte ihr zu wenden? Was ist wichtiger – lieben oder geliebt werden? Der Preis fürs Anderssein ist hoch, aber die kleine Meerjungfrau will ihn bezahlen. Mehr noch, sie nimmt sogar ihren Tod in Kauf.

Es bleibt bis zur letzten Minute spannend, wie das Märchen tänzerisch sein Ende finden könnte. An diesem sitzt wieder ein Matrose am Ufer, aber dieses Mal nicht allein. Er und seine Geliebte begutachten das kleine Holzboot. Die Silhouette der kleinen Meerjungfrau taucht auf. Der Matrose schwimmt nicht zu ihr.

Birgit Weise
Sächsiche Zeitung
25.01.2016
Foto: Pawel Sosnowski

TANZ: »Die kleine Meerjungfrau« — Boris Michel Gruhl — Tanznetz.de

SPRACHLOS IN DER FREMDE

„Die kleine Meerjungfrau“ als zirzensisches Tanztheater in Görlitz
Mit dem fröhlichen Leben am Meeresgrund beginnt ein Märchen, das am Ende dem Leben näher ist, als man zunächst glauben mag.


„Schuster bleib bei deinen Leisten“, so der Volksmund. Abgewandelt, im Hinblick auf die kleine Meerjungfrau, die sich aus der Tiefe des Meeres an die Oberfläche der Menschenwelt sehnt, den Fischschwanz gegen Beine tauscht, dafür die Stimme hergibt, um fortan sprachlos als Fremde unter Fremden zu existieren und an der Einsamkeit zerbricht, möchte man sagen: „Mädchen bleib bei deinen Flossen“. Nach Motiven des Kunstmärchens „Die kleine Meerjungfrau“ von Hans Christian Andersen, aus dem Jahre 1837, gibt es jetzt ein Tanzstück von Dan Pelleg und Marko E. Weigert mit der Tancompany des Gerhart-Hauptmann-Theaters in Görlitz.

Immer wieder versuchen Pelleg und Weigert die traditionellen Bühnenvorgaben im Tanz zu durchbrechen, vor allem die Dimensionen der Darstellung ihrer aus der Konkretion in die Ästhetik des Fantastischen gesteigerten Ideen bildhaft werden zu lassen.
Um eine Unterwasserwelt auf die Bühne zu bringen, bedürfen sie keines Aquariums. Mit dem Künstler Till Kuhnert haben sie einen Partner, der ein stilisiertes und doch mit vielen Raffinessen der Fantasie ausgestattetes Korallenriff auf die Bühne stellt. Und nicht nur das, dreht man die beweglichen Massen des Gesteins am Meeresgrund, so geben sie drei massige Dreiecke, in denen sich genau jene weißen Segel hissen lassen, die einer mächtigen Fregatte Antrieb geben, bis sie der Sturm zerfetzt, das Schiff zerfällt und die gerade noch so lustig tanzenden Matrosen am Meeresgrunde, wo die Meerwesen so fröhlich leben, einsam ertrinken. Mit dem fröhlichen Leben am Meeresgrund beginnt ein Märchen, das am Ende dem Leben näher ist, als man zunächst glauben mag.

Halsbrecherisch bewegen sich die Protagonisten in den fantastischen Kostümen von Tanja Liebermann am massiven Riff als gelte es skurrilste Verrenkung an einer Kletterwand zu kreieren. Dann wieder, an Seilen gehalten, sausen flinke Meerwesen durch die Lüfte, Pardon, durch die Fluten, sie steigen auf und schießen herab, eine mächtige Qualle wabert durch die Unterwasserwelt und aus der Tiefe des ins Bild mit einbezogenen Orchestergrabens steigen Luftballons als Luftblasen auf. Der zirzensische Charakter dieser Szenen ist präsent, und wenn die Meereswesen gar als Gruppe an den Seilen durch die trockenen Fluten preschen, dann kann man auch gerne an die Verzauberung für Groß und Klein denken, wie man sie vom kanadischen Cirque du Soleil kennt.

Auch wenn diese Szenen, die nach verhaltenem, vorsichtigem Beginn, an Kraft und Präsenz gewinnen, sich ob ihrer Bildkraft einprägen, es ist dann doch die Intensität des Kammerspiels in der Begegnung der Meerjungfrau mit ihrem Prinzen und ihr Leiden als Fremde in der Menschenwelt bis hin zum Abschied in den Tod um des Glückes der anderen willen, die diesen Abend wieder zu einem besonderen des Tanztheaters, eben nach Görlitzer Art, werden lassen. Da ist zunächst die Neugier, wenn die Tänzerin Amit Preisman beim Anblick ihres Märchenprinzen, dem kraftvoll agierenden Seth Buckley, in eine heftige Verwirrung ihrer Gefühle gerät. Da ist die eindrucksvolle Szene, wenn sie den Ertrinkenden rettet, beide an Seilen im Kampf gegen die herabziehende Kraft der Meerestiefe, und da ist ihr erster Schmerz, wenn sie mit ansehen muss, mit welcher Leichtigkeit Nora Hageneier sich dem Tanz hingibt, was ihr auf immer verwehrt, oder wenn, dann nur unter unsäglichen Schmerzen möglich ist. Dann kommt uns das Märchen näher als uns vielleicht lieb sein möchte, denn allzu schnell erlischt das Interesse der Menschengesellschaft an jenem fremden Wesen, dem die Sprache fehlt und auch die Kenntnis angesagter Vergnügungs- und Verhaltensrituale. Es ist nicht weit her mit der Willkommenskultur, die sich hier darauf beschränkt der Fremden einen abgelegten Mantel umzuhängen, um sich dann in angesagten Tanzvorgaben wie seelenlose Automaten zu bewegen.

Kein Happy End in diesem Märchen, der schöne Prinz liegt in den Armen seiner Tänzerin, die hat er erwählt, nicht jene Meerjungfrau, der er sein Leben verdankt, er wird es nie erfahren. Ihr Ausweg aus diesem Missverständnis, bei den Seelenlosen, die Seele zu erlangen, ist der Tod, und eben nicht die Rache. Doch eine Vision? Auf jeden Fall ein märchenhafter Abend, in mehrfacher Hinsicht, für Große und Kleine, und eine Chance für die Großen, auf dem Heimweg genau hinzuhören, was die Kleinen gesehen haben.

Boris Michael Gruhl
24.01.2016
Tanznetz.de
Foto: Pawel Sosnowski

KONZERT

KONZERT: »Kraftvoll« — Karsten Blüthgen — Sächsische Zeitung

Ohne grüblerische Schwere

Die Lausitzer Philharmoniker beenden die Saison mit großem Strauss und Brahms.

Das Blöken kündigte vielleicht den Sommer an. Jedenfalls kam es ganz gemäß der Spielanweisung von Richard Strauss, der in seinem „Don Quixote“ die Zungen der Holzbläser flattern lässt. Immerhin begegnet der berühmte Romanheld alias „Ritter von der traurigen Gestalt“ einer Schafherde. Der junge Strauss hatte jedoch nicht reine Naturschilderung im Sinn, sondern führte zugleich die Schafe unter den Musiktheoretikern vor, denen er 1898 diese „Phantastischen Variationen über ein Thema ritterlichen Charakters“ vorsetzte. Strauss lieferte bis heute den originellsten Wurf in einer Reihe von Programmmusiken über „Don Quijote de la Mancha“, die kurz nach Erscheinen des zweiteiligen Romans von Miguel de Cervantes 1605/­15 beginnt.

Die Neue Lausitzer Philharmonie ging unter Leitung von Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti eher behutsam an diese Variationen, betonte die breiten und gemächlichen Tempi. Manche Szene hätte plastischer gelingen können. Die Protagonisten-Parts waren aus den Orchesterreihen trefflich besetzt: Thomas Zydek sang am Violoncello so unermüdlich entschlossen und beseelt, dass es nur Mitleid mit dem Ritter geben konnte. Zwar muss Don Quixotes Begleiter, der Bauer Sancho Pansa, als Dumpfbacke gelten. Das Bratschen-Solo aber, das ihn darstellt, spielte Dorina Floare hinreißend.

Herzlichen Beifall gab es hierfür wie für das andere Hauptwerk, Johannes Brahms‘ erstes Klavierkonzert. Sanguineti war bemüht, das Dunkle und Brüchige hörbar zu machen, das vom Ringen des Schöpfers um sein Werk kündet. Dem ukrainischen Pianisten Igor Tchetuev schienen allerdings lieber die Pferde durchzugehen. Wer brillantes, selbstverliebtes Passagenspiel und Opulenz à la Rachmaninow mag, wurde mit dieser Lesart bedient. Grüblerische Schwere breitete sich kaum aus.

Mit diesem siebenten und letzten Philharmonischen Konzert der Saison pendelte das Lausitzer Orchester abermals zwischen seinen Spielstätten. Neben Görlitz, Zittau und Bautzen war das Programm am Mittwoch in Hoyerswerda zu erleben…

Karsten Blühtgen
Sächsische Zeitung
27. Mai 2016

KONZERT: »West Side Story« — Karsten Blüthgen — Sächsische Zeitung

Schöne Brücken, edle Bernsteine

Die Philharmoniker der Lausitz machen auf Amerikanisch und eröffnen die Hoyerswerdaer Musikfesttage mit Schwung.


Endlich Leonard Bernstein! Geradezu entfesselt wirkte die Neue Lausitzer Philharmonie, als sie am Sonntagabend in Hoyerswerda aus der Pause auf die Bühne der Lausitzhalle zurückkehrte. Nach leicht verwackeltem Prolog schwang das Orchester galant und feurig, temporeich und trittsicher in den Sinfonischen Tänzen, einem Destillat aus dem Musical „West Side Story“. Da wurden Charaktere scharf gezeichnet, Klassiker wie „Somewhere“ tiefempfunden musiziert.

Das Publikum im fast ausverkauften Saal geriet aus dem Häuschen kein Wunder, zumal das Orchester mit Bernsteins Divertimento einen nicht minder spielfreudigen Kehraus nachlegte.
Wie wäre der Abend gelaufen, wäre er mit diesem Divertimento eröffnet worden – so wie konzipiert?

Schade, dass die Werke des sechsten Philharmonischen Konzertes in Hoyerswerda umzusortieren waren, „aus logistischen Gründen“, wie Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti ansagte. (…)

Mit „Bridges“, einem Konzert für vier Kontrabässe und Orchester schrieb Stefan Schäfer wohl das erste Werk für diese Besetzung. Entsprechend selten ist das Ensemble, das den 1963 geborenen Amerikaner dazu anregte: „Bassiona Amorosa“ nennt sich das international besetzte Kontrabassensemble, das die Emotionen der Hoyerswerdaer spielend weckte. Die vier ließen ihre Instrumente grummeln, surren, schmachten, in irren Höhen singen.

Das dreisätzige Konzert„Bridges“ will Brückenbauen zwischen Menschen und Kulturen und ist damit in guter Gesellschaft. Der von Schäfer angesetzte musikalische Nenner ist jedoch klein. Die Musik klingt im besten Sinne versöhnlich, mild und schön. (…)

Mit dem Auftritt der Neuen Lausitzer Philharmonie eröffneten die Hoyerswerdaer ihre Musikfesttage. Traditionell wurde zum Auftakt ein Ehrenpreis der Stadt verliehen. Diesmal ging er an die 15-jährige Helene Vogel. Die Geigerin bedankte sich mit einem beherzten Konzertsatz von Charles Auguste de Bériot, begleitet von den Philharmonikern und gefeiert vom Publikum. (…)

Karsten Blüthgen
Sächsische Zeitung
19.04.2016

KONZERT: »West Side Story« — Dora Gebauer — Sächsische Zeitung Hoyerswerda

Ein Auftakt, der Lust auf mehr weckt

Die Neue Lausitzer Philharmonie eröffnete am Sonntagabend in der Lausitzhalle die 51. Hoyerswerdaer Musikfesttage.


Es war das 51. Eröffnungskonzert – das erste in der zweiten Jahrhunderthälfte der Tradition der Hoyerswerdaer Musikfesttage, und es war ein ganz großes umjubeltes, mit Zugaben und lang anhaltendem Applaus: der Beginn eines, wie auch in den Jahren zuvor, ganz eigen konzipierten Festivals 2016.

(…)

Hoyerswerdaer Hoffnung
Traditionell erfolgte die Verleihung des Ehrenpreises der Stadt an den ersten Preisträger im Regionalwettbewerb „Jugend musiziert“, den diesmal die 15-jährige Violinistin Helene Vogel aus Hoyerswerda entgegennehmen konnte. Sie musizierte mit der Neuen Lausitzer Philharmonie unter Generalmusikdirektor Andrea Sanguineti den ersten Satz des Violinkonzertes Nr. 9, op. 104, von Charles Auguste de Bériot. Für die junge Geigerin eine Premiere – auf großer Bühne mit einem Berufsorchester zu spielen –, und sie meisterte diese großartig: Sicher schickte sie das schwungvolle Auftaktthema in den Raum, nahm die Zuhörer mit dem spürbar erlebten lyrischen Part gefangen und gestaltete locker gelöst das Finale. Eine großartige Leistung. Andrea Sanguineti folgte dem Duktus der jungen Künstlerin und begleitete einfühlsam. Dieser Auftakt mit einer Hoyerswerdaerin strahlte gleich einem Symbol für hoffnungsvolle Zukunft.

Schweigeminute und Adagio
Die Neue Lausitzer Philharmonie gab eine Programmumstellung bekannt. Oberbürgermeister Stefan Skora hatte anlässlich der Trauer um Dietrich Genscher um eine Schweigeminute gebeten, und es erfolgte als erstes Werk des Konzertprogrammes das weltbekannte „Adagio für Streicher“ von Samuel Barber. Dieses Werk beeindruckte so stark, dass Schweigen danach angebracht gewesen wäre. Der warme Streicherklang, der in großer Ruhe langsam aufstieg, sich aufbäumte und wieder zum Ursprung zurückkehrte, ließ tiefe Trauer empfinden, die dennoch nicht erdrückte, erhaben blieb, Würde ausstrahlte. Das Orchester gestaltete so eindringlich sensibel, dass wohl jeder im Saal seinen eigenen Gefühlen nachspüren konnte. Es hat mich sehr berührt, dass zwei syrische Freunde dieses Werk als das für sie eindrucksvollste des gesamten Konzertes empfunden haben.
Und nun folgte eine Novität - nicht nur dieses Abends, sondern weltweit: die Uraufführung eines Konzertes für vier Kontrabässe und Orchester, ein Auftragswerk des Görlitzer Musikvereins an den Komponisten Stefan Schäfer. „Bridges“ – aus Grenzen sollen Brücken werden – ist der Titel des Werkes, das er für das seit 20 Jahren bestehende Kontrabass-Ensemble Bassiona Amorosa geschrieben hat. In fantastischem Zusammenspiel der vier miteinander korrespondierenden Musiker eröffnete sich eine Klangwelt zwischen Vertrautem und Neuem, die in großer Farbigkeit leuchtete (wenngleich eine gewisse rhythmische und auch klangliche Stereotypie nicht zu überhören war). Ob als Quartett oder solistisch begleitet: gemeinsam mit dem Orchester wurden Brücken in musikalisch interessanten Arrangements gebaut. Das Publikum dankte begeistert und bekam eine Zugabe. So bot die Pause viel Gesprächsstoff für dieses ungewöhnliche Musikerlebnis.

Dann die West-Side-Story-Tänze
Unter dem Titel „West Side Story“ war das Eröffnungskonzert angekündigt, und es erklangen von Leonard Bernstein „Sinfonische Tänze“ aus seinem weltbekannten, Hunderte Male aufgeführten und auch verfilmten gleichnamigen Musical. In bunter Folge reihen sich die Melodien aneinander, sind miteinander verwoben. Immer ist es das hoffnungsvolle „Somewhere“, das sich durch das Werk zieht. Wer die Geschichte des Musicals um die ethnisch rivalisierenden Jugendlichen kennt, wo erst durch den Tod zweier Menschen und die dadurch verlorene Liebe Versöhnung möglich wird, ist tief berührt, wenn das zarte Motiv „Somewhere“ in vielen Varianten erklingt und trotz vieler rhythmisch und klanglich mitreißender tänzerischer Klänge am Ende Betroffenheit, aber auch aufkeimende Hoffnung bleibt. Das Orchester unter seinem anfeuernden äußerst präzisen Dirigenten vollbrachte in rhythmischer Präzision Höchstleistungen, wobei kein einzelnes Register unerwähnt bleiben sollte. Und den fulminanten Schlusspunkt setzte Bernsteins „Divertimento“ in einer Vielfalt von Stilen, vom amerikanischen populären bis hin zum sinfonischen. Ob Samba, Walzer, Mazurka, Blues – am Ende ist es eine Anlehnung an den Radetzkymarsch, der noch einmal das Orchester alle „Register ziehen“ ließ. Musiker und Dirigent, bestens aufgelegt, wurden vom Publikum so bejubelt, dass sich Andrea Sanguineti mit einer Zugabe bedankte.

Ein Auftakt, der Lust auf mehr machte. Und das können Musikliebhaber in weiteren zehn Konzerten erleben.

Dora Gebauer
Sächsische Zeitung
19.04.2016

KONZERT: »Neugier« — Karsten Blüthgen — Sächsische Zeitung

Brahms als Muntermacher

Die Lausitzer Philharmoniker wollen Neugier wecken. Die Musik hilft dabei nicht immer.


Dirigent Ulrich Kern ging mit Humor an seine schwierige Aufgabe, das Publikum einzustimmen. Brahms habe seinen Besuch absagen müssen. Gelächter im Bautzener Theater. Auch Komponistenkollege Henri Tomasi (1901 – 1971), von dem ein rares Posaunenkonzert auf dem Programm stand, konnte naturgemäß nicht kommen. Dafür hatte es der 1984 geborene Orazio Sciortino am Donnerstag in die Lausitz geschafft, um die Uraufführung seines Orchesterwerks „Qasida II“ mitzuerleben.

Mancher im Publikum raunte, ihm waren Kerns Bemühungen vor dem mit „Neugier“ überschriebenen Programm der Neuen Lausitzer Philharmonie suspekt. Vorurteile sind nie gut, zumal bei neuer Musik. Doch „Qasida II“ ist erdrückend schwer. Das Werk brodelt und bebt, fließt zäh aber heiß wie Lava, bietet den Sinnen über zwanzig Minuten hinweg kaum Halt. Möglicherweise hat der Komponist und Pianist aus Syrakus genau diese Gefühle des Unbehagens wecken wollen. „Qasida II“ ist ein Tribut an den arabisch-sizilianischen Poeten Ibn Hamdis, der in der Not des Exils dichtete. Die Aktualität seiner Musik angesichts der Flüchtlingsströme heute konnte Sciortino allenfalls ahnen. So wie die gespaltenen Reaktionen des Publikums auf sein Werk, dessen Komplexität sich hörend kaum erschließt.

Henri Tomasis Konzert für Posaune und Orchester ist noch keine sechzig, plädiert für das Melodische und wurde beherzt an genommen. Solist Fabrice Millischer und die Philharmoniker setzten mit der Zugabe noch ein Sahnehäubchen: Maurice Ravels „Pavane pour une infante défunte“, eine süße Vorstellung einer tanzenden Prinzes sin an einem alten spanischen Hof.

Die zweite Sinfonie von Johannes Brahms, der über hundert Jahre tot ist, entfaltete ihre feierliche Klanglichkeit mühsam, denn das Orchester wirkte zunächst erschöpft und wenig trittsicher. Erst mit dem bezwingenden Sologesang der Violoncelli am Beginn des „Adagio non troppo“ zog neues Leben ein, das Spiel wirkte konzentrierter, die Soli saßen präziser. Kern, erster Kapellmeister in Görlitz, beflügelte die Philharmoniker, balancierte die Register immer stimmiger. Dynamisch hörte man die Melodien fliegen, „heiter und lieb lich“, wie sie ihr Erfinder 1878 selbst hörte. Das Publikum im gut besuchten Bautzener Theater dankte nach einem fulminanten Finale und wirkte am Ende munterer als zur Konzertpause.

Karsten Blüthgen
Sächsische Zeitung
24., 25.10.2015
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