Das Besondere an diesem Stück ist die Vorgehensweise in der Recherche. Die Inhalte und Texte entspringen nicht Rietzschels eigener Fantasie, sondern sind das Resultat von 100 Interviews, die der Autor über einen längeren Zeitraum hinweg führte. Rietzschel hat also tief in der Erinnerungskiste von Menschen gegraben, die - so scheint es zumindest - persönlichen Kontakt zu einem Beispiel stehenden Politiker der Region hatten. Das Stück tastet sich langsam vorwärts, von Kindheit und Jugend der betreffenden Person über seine Zeit in der Bundeswehr, seiner Polizeiausbildung bis hin zu seinen mehrfachen politischen Richtungswechseln, die ihn am Ende zum Bürgermeisterkandidaten einer unbenannt bleibenden Partei machten. Die einzelnen Charaktere, die auf der Bühne stehen, allesamt in unschuldiges Weiß gekleidet, unterhalten sich über seinen Lebensweg. Sie setzen Samuel W.s Charakter Schritt für Schritt zusammen, während sie ihren alltäglichen Aufgaben nachgehen - Häuser werden gebaut, Kinder bewundert, Nachbarn bespaßt. Überragt wird die Szenerie aus einer erhöhten Position von einer anzug- und seitenscheiteltragenden Figur im Hintergrund; unterbrochen wird sie hin und wieder von Filmsequenzen, in denen sowohl der Machtkampf innerhalb der lokalen Partei rund um die Bürgermeisterwahl dargestellt wird, als auch die Versuche anderer Parteiengagierten, die Radikalität zu bändigen, welche Samuel W. in den Wahlkampf hineinträgt. An irgendeiner Stelle kommt sein Wehrmachtsmantel ins Spiel, ein Geschenk der Oma; sein Spitzname in der Schule (sechs Buchstaben, beginnt mit F-), sein Schlägertrupp; und der Kreis von der Nachwendebiographie zum Nazi schließt sich.
Zuerst ein Wort zum Inhaltlichen, denn, wie gleich noch deutlich werden sollte, bei diesem Stück reicht es nicht aus, nur über Inhalt zu sprechen. Aber first things first. Was auf dieser Theaterbühne in Görlitz stattfand, war ein Spiel mit Kollektiverinnerungen. Aus künstlerischer (und vielleicht auch politischer) Sicht finden wir hier eine eigentlich sehr schlaue Herangehensweise und eine ganz neue Form der Distanz. Man kann sich in gewisser Weise unangreifbar machen, wenn man als Verwerter statt als Schöpfer von Inhalt auftritt, vor allem, wenn dieser Inhalt noch dazu von allen möglichen Personen kommt statt einer einzigen. Die Chancen stehen gut, dass sich der Großteil des Publikums irgendwo wiederfindet. Dieses Wiederfinden kann in Samuel W. alles sein: Die Beschreibung von Wäsche, draußen aufgehangen und schwarz vom Kohlestaub. Arbeitslosigkeit nach der Wende, alle Kinder weg, Traumaerfahrung soziale Marktwirtschaft. Der Michael Kretschmer, das ist doch ein Guter. Oberlausitz, Sachsen und Ostdeutschland der letzten vierzig Jahre, destilliert und für die Bühne aufbereitet. Die Älteren im Publikum erkennen ihre persönlichen Erfahrungen, die Jüngeren - und da spreche ich für mich selbst - erkennen die Generation und Lieblingssätze ihrer Eltern. Es ist schwer, etwas gegen ein Stück zu sagen, dessen Geltungsanspruch so gering ist. Gleichzeitig ist etwas Paradoxes dran an diesem Versuch, auf eine Person zugeschnitten zu sein und gleichzeitig hundert Leute als Quelle zu benutzen, um aus deren Zitaten eine Allgemeingültigkeit schneidern zu wollen.
Aber es funktioniert! Das ist die gute Nachricht. Es funktioniert auf der Bühne, und nur da. Rietzschel hat Theater-Talent, meiner Meinung nach sogar mehr Bühnen- als Buchpotential, und das Stück ist definitiv gut geschrieben, spannend choreografiert und inszeniert, und besitzt gerade genug Selbstbewusstsein und Selbst-Bewusstsein, um nicht gezwungen ironisch oder lächerlich unkritisch zu werden. Man nimmt dem Autor die Distanz ab, die er - trotz seiner existenten und bekannten politischen Positionen - zu einem Stück mit derartiger Brisanz wahren will. Das Stück stellt ein Musterbeispiel für Radikalisierung dar, für eine Ost-Radikalisierung, die mittlerweile schon fast zu einem Standardelement der literarischen "Ich sage, was andere nicht sagen"-Fraktion geworden ist. Es tut, was dieser Blog auch schon versucht hat: erklären, nicht entschuldigen. Ich fand es allerdings durchaus schwierig, mir eine Meinung zum Stück selbst zu bilden, einfach, weil mir jeder Satz irgendwie schon bekannt vorkam. Wie soll man da noch etwas delegitimisieren? Und ist es jetzt das Stück selbst, was man gut findet, oder die Tatsache, dass es die eigene Lebenswelt widerspiegelt?
Die manische Aufzählung der deutschen Neurosen der letzten zwanzig Jahre: EU-Osterweiterung, Euro-Rettung, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona, Ukraine-Krieg.
Die Desillusionierung: Kapitalismus: Ausbeutung für Geld, Sozialismus: Ausbeutung für die Sache.
Die Absurdität Frauenerwerbsquote, als Gesellschaftsziel vom Sozialismus einfach mal so nebenbei in den Kapitalismus übernommen, mit den Begleiterscheinungen ausgelaugte Frauen und ein absolut dysfunktionalen Verständnis von Arbeit - am Beispiel von Samuel W.s Mutter: Sie konnte nicht Nein sagen zu Arbeit. Wer sollte es denn sonst machen?
Deutsche Generationen und ihre Diktaturen: Niemand will Täter gewesen sein.
Das Europa-Syndrom: Wirtschaftsliberalismus? Nein, Freiheit.
Die Wut über Identität: Die wollten, dass wir Wessis werden.
Der zentrale Moment des Stücks, das Brechen der Illusion: Den Sieg hätten wir ja eigentlich verdient gehabt. - Das verwenden sie aber nicht in ihrem Stück, oder?
Die wirklich spannende Frage bei jedem Kunstwerk ist aber natürlich nicht, ob es auf der Bühne funktioniert. Kunst ist Kunst ist Kunst - klar, sicher, aber was macht Kunst mit Gesellschaft, und was macht Gesellschaft mit Kunst? Denn auch für Samuel W. endet die Bühne irgendwo und man findet sich wieder in einem Theatersaal, Bundes- und Ministerpräsident im Publikum, die sich zusammen mit den Besitzer*innen des kulturellen Kapitals der Stadt ein Stück über einen Lokalpolitiker und seinen Weg zur Radikalisierung anschauen. Denn ein Disclaimer, wie man ihn manchmal am Anfang von Büchern findet, könnte diesem Stück nicht so einfach verliehen werden: Sämtliche Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig, nicht wirklich, nein. Samuel W. sitzt im Görlitzer Stadtrat, steht aktuell auf Wahllisten und hat als AfD-Frontmann lokale Bekanntheit erreicht. Wie viel Sebastian Wippel in Samuel W. wirklich drinsteckt, wird das Publikum nicht erfahren, und ich bezweifle, dass es irgendjemand weiß - so ist das eben mit oral history, Geschichte, die kein Fakt ist, sondern sozial konstruiert.
Das beispielhafte Leben des Samuel W. ist ein Produkt seiner Umstände, sowohl physisch (als Auftragswerk des GHT) als auch künstlerisch. Es wird in Görlitz aufgeführt, warum? Weil die bildungsbürgerliche und AfD-ferne Elite da stark genug ist, um ein solches Stück zu erlauben. Und es wird in Deutschland aufgeführt, im Jahr 2024, in dem Kunst sich auf einmal (wieder?) in einer Beobachterrolle wiederfindet: geschockt von dem, was passiert, aber auch nicht fähig, wegzuschauen. Mich persönlich würden zwei Wahlergebnisse interessieren: das des Theaterpublikums und das der Befragten, deren Sätze Rietzschel in seinem Stück verwendet. Deren Ängste werden auf der Bühne reproduziert, und das Publikum lacht. Nicht immer, natürlich nicht, aber vielleicht ein, zwei Mal zu oft. Hätte ich dieses Stück in einem westdeutschen Theaterhaus gesehen, würde diese Rezension (so, wie ich mich selbst kenne) wesentlich kritischer ausfallen, als sie es ist. Denn die Frage bleibt: Wer schaut sich hier wen an? Wer spielt für wen? Wer stellt wen dar?
Vielen Dank, Lukas Rietschel und dem Team am Zittauer Theater für die berührende Inszenierung.
In den 90ern hab in berufsbegleitend (Migrationsberatung) Sozialpädagogik studiert. Vielleicht hatte die Elterngeneration zu sehr mit sich zu tun und Jugendliche haben sich abgehängt gefühlt?
Ja, wir mussten uns durchbeißen, aber nicht auf Kosten anderer. In Zittau ging es damals heiß her, aber es war noch so viel möglich. Und es stimmt nicht: Es hat sich so vieles in eine gute Richtung bewegt. Vielleicht haben wir uns zu schnell angepasst an eine hemmungslose Leistungsgesellschaft. Es liegt aber an uns selber, nicht vor den Problemen davonzulaufen sondern sie Schritt für Schritt gemeinsam anzugehen. Wir leben hier eben im "Zonenrandgebiet", vieles geht unter die Haut. Ich möchte aber niemals abgebrüht werden. Auch in Solingen und Mölln haben Flüchtlingsheime gebrannt und wir haben eine gemeinsame Geschichte mitten in einem Europa, dass dringend wieder solidarischer werden muss. Ich bekomme öfter die Infos von Frank Richter MdL (SPD). Mein Eindruck ist, dass Menschen, denen die Menschenwürde und die Freiheit in Verantwortung, die Freiheit der Andersdenkenden noch etwas wert ist, schneller vernetzen könnten. Dafür lohnt es sich, auf noch mehr Wohlstand zu verzichten. Es geht uns im Vergleich zu Menschen weiter östlich oder südlich doch gut.
Und die junge Generation braucht endlich die Chance, mitzubestimmen. Sie haben tiefe und gute Gedanken, sie haben uns was zu sagen. Sie werden gebraucht, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund.
An der Vergangenheit lässt sich nichts mehr verändern, an der Gegenwart und der Zukunft schon. Wir können nicht mehr so leben, als könnte nach uns die Sintflut kommen. Ich fühle mich auch eher dazwischen, versuche trotz dem Trennendem nach dem Verbindenden zu suchen. Anstrengend ist das schon, aber unbedingt nötig. Mit allen guten Wünschen für die Bücher und Inszenierungen in Zukunft. Weiter so und danke!. Claudia Hüttig